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Politik: Die einst für das Gründungseuropa geschaffenen Institutionen müssen reformiert werden - sonst droht die Handlungsunfähigkeit (Kommentar)

Über allen Gipfeln liegt Stolz. Zufrieden strahlen die Gesichter beim Familienfoto in Helsinki.

Über allen Gipfeln liegt Stolz. Zufrieden strahlen die Gesichter beim Familienfoto in Helsinki. Das Europa der 15 hat nun 13 Beitrittskandidaten. Dieses Bild und das harmoniebetonte Abschlussprotokoll wollen suggerieren: Ein schweres Stück Arbeit ist geleistet, ein großes Werk vollendet worden. Die Europäische Union hat abermals einen historischen Schritt getan und ist fit für die Zukunft. Eine Zukunft mit demnächst 28 Mitgliedern.

Doch dem ist nicht so. Die eigentliche Arbeit fängt erst an. Die EU muss sich grundlegend ändern, wenn sie nicht an ihrem Wachstum kollabieren will. Sie arbeitet in vielen Bereichen immer noch nach Verträgen und mit Institutionen, die für das Gründungseuropa der sechs geschaffen worden sind oder für das Europa der zwölf zwischen der Süderweiterung 1986 und der Norderweiterung 1995 auf die heute 15 Mitglieder. Künftig kann nicht mehr jedes Land einen eigenen Vertreter in der EU-Kommission haben, sonst wird sie handlungsunfähig. Auch das Parlament darf nicht unbegrenzt wachsen. Angesichts krasser Größenunterschied - Deutschland hat 80 Millionen Einwohner, Estland 1,5 Millionen - gilt es, die Stimmengewichtung im Ministerrat neu zu regeln. Und: Die Mehrheitsentscheidungen müssen ausgeweitet werden. Wenn mehr als 20 Mitglieder ein Vetorecht haben und der eine Staat es wegen nationaler Interessen hier einsetzt und der nächste dort, dann droht Europa die Lähmung.

Frühere Großreiche sind an ihrer Größe zugrunde gegangen: das Römische Imperium, das Osmanische Reich, die Sowjetunion. Sie waren nicht mehr in der Lage, den Zusammenhalt und die Verwaltungsorganisation zu garantieren. Als der wirtschaftliche Erfolg ausblieb, verloren die Imperien ihre Anziehungskraft. Andere Identifikationsangebote, vor allem nationale Eigenständigkeit, wurden wichtiger als der Stolz, einem Schwergewicht der Weltpolitik anzugehören.

Die Europäische Union muss dieses Risiko ernst nehmen. Mit der Erweiterung wachsen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Unterschiede. Die EU muss nun zwei Dinge schaffen: den Zusammenhalt und die Bindekräfte in der größeren Union erhöhen und gleichzeitig den Völkern und Staaten das Gefühl geben, dass ihre Anliegen berücksichtigt werden und nicht in einer Mammutbürokratie untergehen. So viel Gemeinsamkeit und Integration wie nötig - so viel Demokratie, Selbstbestimmung und Vielfalt wie möglich.

Die weltpolitischen Veränderungen, die die Erweiterung erst möglich machen, sind ein Gewinn. Aber sie machen die Aufgabe nicht einfacher, denn sie haben der europäischen Integration einen Klebstoff entzogen, der bei der Gründung der EWG und der Entwicklung zur EU eine wichtige Rolle spielte: der Zusammenschluss gegen die Bedrohung der Freiheit. Kein gemeinsamer Feind hält die EU mehr zusammen. Aber auch deshalb wachsen die nationalen Egoismen, wie der Streit um Zinssteuer und Beef-Importe in Helsinki sowie beim Berliner Gipfel das Feilschen um das Finanzystem zeigten.

Nationale Interessen sind nichts Ehrenrühriges, jede Regierung darf und soll sie hartnäckig vertreten. Aber Europas Staaten müssen berücksichtigen, dass auch das Funktionieren der EU in ihrem Interesse liegt, dass die Bedrohung von deren Handlungsfähigkeit ein größerer Verlust ist als jedes schmerzliche Nachgeben, wenn es unumgänglich ist. Die EU muss die Reform ihrer Institutionen bis 2001 abschließen - damit die Erweiterung möglich wird und die Verheißung neuer Größe nicht zum Alptraum der Lähmung wird.

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