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© AFP

Politik: Die fast verlorene Stadt

Mythos, Mammon, Mysterium: Vor 100 Jahren wurde Machu Picchu entdeckt. Der Tourismus ist dabei, den heiligen Ort der Inka zu zerstören

Led Zeppelin muss dröhnen. Und so hat der deutsche Enddreißiger gleich eine Mini-Stereo-Anlage neben sich gestellt. Wie entrückt sitzt er zwischen alten Steinen und lässt den Blick schweifen zu den nahen Gipfeln, die sattgrün in den Himmel ragen. „Stairway to Heaven“ für alle. „Mach das sofort aus, du Idiot“, schimpft ein Landsmann und will einen Wächter holen. Doch die Ordnungshüter sind gerade anderswo beschäftigt, um Besucher mit schrillen Pfiffen vom Klettern auf den Inka-Mauern abzuhalten.

Ein ganz normaler Nachmittag in Machu Picchu. Am Abend wird man wieder rund 2500 Menschen aus aller Welt gezählt haben. 700 000 reisen jährlich zur peruanischen Hauptattraktion. Vermutlich kommen 2011 noch mehr, denn das Land feiert die Wiederentdeckung der Inka-Stadt vor 100 Jahren.

Einem Mann wird posthum gehuldigt, der 1857 als Sohn eines Missionars auf Honolulu zur Welt kommt. Hiram Bingham studiert an amerikanischen Elite- Hochschulen, bildet sich in Archäologie fort und erhält als 50-Jähriger eine Dozentenstelle für südamerikanische Geschichte in Yale. Mehrmals reist er nach Südamerika, 1911 ist Peru sein Ziel. Hiram Bingham will die „verlorene Stadt der Inka“ finden, jenen Ort, an dem sich die letzten Überlebenden der Herrscherklasse jahrzehntelang vor den spanischen Eroberern versteckt hatten. 1531 war der Spanier Francisco Pizarro an Perus Küste gelandet. Drei Jahre später gelang ihm die Eroberung der alten Inka-Hauptstadt Cusco. Die Spanier wollten Gold und Silber und ließen es sich von den Inka herbeischaffen. Als Lohn wartete der Tod. Tupac Amaru, der letzte Inka-Herrscher, wurde 1572 auf der Plaza de Armas in Cusco hingerichtet.

Wo aber hatte sich die Oberschicht der Inka verborgen gehalten? Hiram Bingham vermutet die Festung im Urubamba-Tal, rund 75 Kilometer nordwestlich von Cusco. Im Juli 1911 ist er unterwegs in der „wundervollen“ Schlucht des Urubamba, wo der Fluss „zwischen gigantischen Granitfelsen hindurchstürzt“. Er schwärmt vom Zauber der Landschaft: „Sie hat die majestätische Erhabenheit der kanadischen Rocky Mountains sowie die atemberaubende Schönheit des Nuuanu Pali bei Honolulu und bietet so bezaubernde Ausblicke, wie man sie vom Koolau-Ditch- Pfad auf der Insel Maui genießt.“ Er sieht gigantische Felswände, tosende Stromschnellen, schaut hinauf zu 3000 Meter hohen Schneegipfeln. Und er hört Gerüchte über Ruinen, hoch oben in den Bergen. Bingham ist skeptisch: „In diesem Land kann man nie sicher sein, ob solch ein Bericht glaubwürdig ist“, notiert er. Doch seine Neugier siegt. Der Bauer Arteaga und ein zwölfjähriger Hirtenjunge werden ihn führen.

Der Weg ist schwierig. Schon die Überwindung des Urubamba wird zur Mutprobe. Statt einer Brücke ist der Fluss mit einem halben Dutzend dünner, locker zusammengebundener Baumstämme überspannt. „Ich gestehe freimütig, dass ich mich hinkniete und auf allen vieren Zoll für Zoll vorwärts kroch...“, heißt es in Binghams Erinnerungen.

Die Winter sind kalt in Peru. Der 24. Juli bildet keine Ausnahme, zudem ist es feucht, Nieselregen fällt. Arteaga will umkehren, findet den Aufstieg bei dem schlechten Wetter zu mühsam. Bingham kann ihn nur umstimmen, indem er ihm das Vierfache der üblichen Entlohnung in Aussicht stellt. Sind die Ruinen den Aufwand wert? Bingham zweifelt, denkt an seine Expeditionsbegleiter, die gleich im Tal geblieben sind. „Keiner von uns stellte sich vor, dass diese besonders interessant wären...“, wird er sich später erinnern.

Terrassen tauchen im Nebel auf, das ist nichts Ungewöhnliches, denn auch an anderen Stellen in den Anden dienen sie den Bauern zum Anbau von Mais, Kartoffeln oder Erdnüssen. Dann kommt die Sensation: „Plötzlich sah ich vor mir die Mauern zerfallener, in feinstem Inka-Mauerwerk erbauter Häuser. Sie waren kaum zu entdecken, weil sie teilweise von in Jahrhunderten gewachsenen Bäumen und Moos überwuchert waren, aber in dem dichten Halbdunkel, verborgen in Bambusdickicht und Schlingpflanzen, waren hier und da Mauern aus weißen, sorgfältig geschnittenen und exakt aneinander gefügten Granitquadern zu entdecken.“

Bald überlässt Arteaga dem Hirtenjungen die Führung, höher und höher geht es hinauf. „Wir krochen durch das dichte Unterholz, kletterten über Terrassenbauer und in Bambusdickicht (...). Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, zeigte mir der Junge unter einem gewaltigen, überhängenden Felsvorsprung, eine mit fein gemeißelten Steinen ausgekleidete Höhle. Sie war ganz offensichtlich ein königliches Mausoleum gewesen. Auf diesem Vorsprung befand sich ein halbrundes Gebäude, dessen Außenwand, sanft abfallend und leicht gebogen, eine auffallende Ähnlichkeit mit dem berühmten Sonnentempel in Cuzco aufwies“, schreibt Bingham. Und schwärmt: „Er folgte der natürlichen Krümmung des Felsens und war mit einem der schönsten Beispiele von Baukunst – eindeutig ein Meisterwerk.“

Die symmetrische Anordnung der Quader, die allmähliche Verjüngung der Steinlagen erscheinen dem amerikanischen Forscher „weicher und gefälliger als die der Marmortempel der Alten Welt“. Es wurde keinerlei Mörtel verwendet, Bingham findet keine „hässlichen Fugen zwischen den Steinen“. Sie wirken vielmehr, als seien sie „zusammengewachsen“.

Der Amerikaner untersucht die größeren Steinblöcke, die als Fundamente dienten. Und stellt fest, dass jeder einzelne gut zehn Tonnen wiegen muss. Wie haben die Inka es geschafft, diese gewaltigen Blöcke hier heraufzubringen? Und warum hat nie jemand etwas berichtet von dieser Stadt auf beinahe 2500 Metern Höhe? Dass andere vor ihm schon hier waren, ahnt Bingham nicht – und will es auch später nicht wahrhaben. Auf einer Landkarte von 1865 ist Machu Picchu bereits verzeichnet. 1867 erwirbt der Deutsche Augusto Berns Goldschürfrechte am Ort, 1901 ritzt der Bauer Lizarraga seinen Namen in eine Mauer des Königlichen Palastes.

Bingham zweifelt, dass ihm jemand glauben wird, was er entdeckt hat. Und lichtet mit seiner Eastman alles ab. „Zum Glück hatte ich in diesem Land, wo Genauigkeit bei der Berichterstattung keine herausragende Eigenschaft von Reisenden ist, eine gute Kamera dabei, und die Sonne schien“, schreibt er. So entstehen Aberdutzende, gestochen scharfe Aufnahmen der noch zu großen Teilen überwucherten Stadt. Bäume wachsen auf den Mauern, riesige Agaven klammern sich ans Gestein, Kletterpflanzen schlingen sich um das Halbrund eines Turms.

Ein Foto zeigt Bingham und seinen kleinen Führer vor einem Inkatempel. Die National Geographic Society veröffentlicht es in ihrem Magazin – mit überwältigendem Erfolg. Die Gesellschaft kann danach mehrere tausend neue Mitglieder verzeichnen. Machu Picchu wird bekannt.

Im Rahmen zweier weiterer Bingham-Expeditionen, 1912 und 1915, wird das Gelände freigelegt. Erste Grabungen finden statt. 44 000 Stücke sollen geborgen worden sein, darunter Keramiken, Bronze- und Silberartefakte und rund tausend menschliche Knochen. Bingham lässt das meiste in die USA verschiffen und wird dafür in Peru angeklagt. Erst Jahrzehnte später wird er rehabilitiert. 1948 wird die Straße von Aguas Calientes nach Machu Picchu nach ihm benannt, Bingham kommt persönlich zur Einweihung.

Archäologisch hat der US-Forscher allerdings wenig geleistet. Manches hat er zwar aufgeschrieben, aber wenig eingeordnet. „Jede nicht dokumentierte Untersuchung ist eine Zerstörung“, urteilt der Berliner Archäologe Peter R. Fuchs. Eine Interpretation der Fundstücke sei nicht mehr möglich, wenn der Kontext fehle, erklärt er. Auch der Bonner Ethnologie-Professor Berthold Riese moniert in seinem 2004 erschienenen Buch „Machu Picchu“ (C.H. Beck Verlag), dass Bingham seine Ergebnisse später „eher populär als wissenschaftlich“ dargestellt hat.

Übrig bleiben Spekulationen. Da man mehr weibliche als männliche Knochen gefunden hat, vermutete man, dass die aus Cusco vertriebenen Sonnenjungfrauen, Konkubinen der Inka, hier gelebt haben könnten. Riese bezweifelt das. Und er glaubt auch nicht, dass hier tatsächlich der letzte Hauptsitz der Inka gewesen ist, „sonst wäre der Ort in den zahlreichen schriftlichen Berichten über die spanischen Eroberungs- und Missionsversuche erwähnt worden“.

Machu Picchu bleibt ein Mysterium – und jeder, so scheint’s, will hin. Möchte hoch oben an der Sonnenwarte stehen und hinabblicken auf den Heiligen Platz. Will sehen, was Hiram Bingham so beschrieb: „Großartige grüne Felshänge fielen zu den weißen Stromschnellen des Urubamba hinab. Gegenüber und zur Nordseite des Tales befand sich eine große Felswand aus Granit, die 2000 Fuß steil in die Höhe ragte. Auf der linken Seite die einsame Spitze des Huayna Picchu, umgeben von unerreichbar scheinenden Abgründen.“

Machu Picchu – ein Traum, an dem noch immer gebastelt wird. „Peruanische Archäologen erweitern durch Ausgrabungen und Restaurierungen das begehbare Stadtgebiet laufend“, schreibt Riese. Ein „wissenschaftliches Erkenntnisziel“ stecke nicht dahinter.

Heute kommen die Touristen mit dem Zug von Cusco, eine Straße gibt es nicht. Drei Stunden dauert die Fahrt entlang des Urubamba. Ein Ticket kostet, je nach Komfort und Service im Zug, zwischen 55 und 250 Dollar. Endstation im Tal ist Aguas Calientes, ein Alptraum in Beton. Pensionen, Hotels, Restaurants, Bars und Souvenirläden – eilig und hässlich hochgezogen. Von Aguas Calientes starten Busse hinauf nach Machu Picchu. 22 übernehmen laufend den täglichen Pendelverkehr. Die Fahrt dauert eine knappe halbe Stunde – zum Preis von 18 Dollar. In dreizehn Spitzkehren winden sich die Gefährte über die staubige Straße nach oben – und wieder zurück. Der Eintritt zur Ruinenstadt kostet 45 Dollar, der Zugang wird über elektronisch gesteuerte Drehkreuze geregelt.

2500 Besucher pro Tag sind zugelassen, 500 von ihnen nutzen den „Inka- Trail“ über die Berge nach Machu Picchu. Mehrere Monate im Voraus muss man buchen, um einen „Slot“ für die dreitägige Wanderung zu bekommen. Dutzende Agenturen in Cusco bieten den Trip an, Träger, Koch und Zelte inklusive.

Auch die Wanderer landen irgendwann, zumindest für einen Drink, im Hotel Sanctuary Lodge, gleich am Eingang zur Inka-Stätte. Das schlichte Refugium gehört inzwischen der englischen Luxuskette Orient-Express, die es umfassend renovieren und wohl auch erweitern will. 29 Zimmer und zwei Suiten können gebucht werden. Wer hier logieren möchte, muss tief in die Tasche greifen. Das „Hiram Bingham Package“ mit Luxus-Zugfahrt, Eintritt und Dinner kostet für eine Nacht rund 900 Dollar.

Stephan M. Post, deutscher Direktor des noblen, zur Orient-Gruppe gehörenden Monasterio Hotels in Cusco, träumt von einer Seilbahn hinauf nach Machu Picchu. „Die stinkenden Busse sind nicht gerade umweltfreundlich“, sagt er und schilt das „Preisdiktat“ der örtlichen Unternehmer. Schon Anfang der sechziger Jahre wurde eine Seilbahn projektiert, doch aufgrund der politisch kritischen Lage fand sich kein Investor. Zudem ist das Gelände geologisch instabil. 1995/96 gab es zwei Bergrutsche. Geologische Experten aus Japan befürchten gar einen sich langsam entwickelnden „Großrutsch“, der Teile von Machu Picchu in die Tiefe reißen könnte.

David Ugarte Vega Centeno, Ethnologe und künftiger Direktor des nationalen Kulturinstitutes von Cusco, weist jegliche Seilbahnpläne empört zurück. „Niemand käme auf die Idee, eine Seilbahn zu einem heiligen Berg in Japan zu bauen. In Machu Picchu wäre es ein Akt der Barberei“, sagt er.

Aber es gibt noch andere Pläne. „Die Menschen fahren über eine staubige Straße hinauf zum Eingang und stehen dort lange an. Das ist heutzutage nicht mehr zumutbar“, schreibt Roger Valencia, Direktor der Tourismusbehörde in Cusco, im Geburtstagsbildband über Machu Picchu. Valencia schlägt mehr Eingänge zur Inka-Festung vor und verlangt neue „Servicepoints“. Bars, Kioske, Souvenirläden? Davon würde auch die Bevölkerung profitieren, glaubt Valencia, denn „hunderte Arbeitsplätze“ könnten geschaffen werden.

Die Unesco, die den Ort 1983 auf die Liste des Weltkultur- und Weltnaturerbes setzte, sieht die Entwicklung längst mit Sorge. Die Organisation mit Sitz in Paris plädiert für eine Zugangsbeschränkung auf täglich 800 Personen. Zweimal schon konnte Peru abwenden, dass Machu Picchu zum „bedrohten Erbe“ erklärt wird. Immerhin setzte die Unesco die Stätte unlängst auf seine „Watchlist“. Auch in Peru sind Experten schon alarmiert. Das Land bat die Unesco, Machu Picchu im Rahmen einer Fernerkundung aus dem Weltraum zu überwachen. Damit sollen schon kleine, auf Dauer aber gefährliche Bewegungen der Berge unterhalb der Inka-Stätte lokalisiert werden.

David Ugarte teilt die Bedenken der Organisation. „Früher lebten wahrscheinlich weniger als 500 Menschen hier oben, nun kommen täglich bis zu 2500 hierher“, sagt er. Und fragt sich: Warum immer nur Machu Picchu? Es gebe in der weiteren Umgebung von Cusco rund 120 wichtige Ruinen aus der Inka-Zeit. Bringe man die Touristen dorthin, hätte auch die arme Landbevölkerung etwas davon. Noch aber gelte die Devise „Inca si, Indios no“, und die Nachfahren der Inka hätten nichts von den Machu-Picchu-Millionen. Was die Regierung damit macht, ist unklar.

Vielleicht ändert sich das unter dem neuen Präsidenten. Am 28. Juli wird Ollanta Humala sein Amt antreten. Grund genug für seinen Vorgänger Alan Garcia Perez, das Jubiläum der „Wiederentdeckung“ von Machu Picchu kurzerhand vorzuverlegen. Bereits am 7. Juli fand eine gigantische Show zwischen den Inka-Ruinen statt. Gefeiert wurde auch die Rückgabe etlicher Grabungsfunde Binghams, die Ende 2010 zwischen Peru und der Universität Yale vereinbart worden war. Die ersten Stücke werden jetzt in einem neuen Museum in Cusco ausgestellt.

Machu Picchu bleibt ein Mythos – und er bringt viel Geld. „Ein heiliger Ort“, betont Ugarte und verlangt seinen „besonderen Schutz“. Sonst wird Machu Picchu eines nahen Tages wirklich zu Binghams „verlorener Stadt“.

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