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Politik: Die Freiheit der Pflicht (Leitartikel)

In aller Eile wird in diesem Sommer noch einmal die Wehrpflicht festgeschrieben, weil eine große Koalition der Volksparteien es so will. Doch wahrscheinlich wird es so sein, dass in späteren Rückblicken der Abschied der Deutschen von der allgemeinen Wehrpflicht auf das Jahr 2000 datiert wird.

In aller Eile wird in diesem Sommer noch einmal die Wehrpflicht festgeschrieben, weil eine große Koalition der Volksparteien es so will. Doch wahrscheinlich wird es so sein, dass in späteren Rückblicken der Abschied der Deutschen von der allgemeinen Wehrpflicht auf das Jahr 2000 datiert wird. Ein Abschied, der sehr schwer fällt. Zu Recht. Denn zu den schönen Merkwürdigkeiten der Bundesrepublik gehören die Kämpfe und Versöhnungen um Westbindung und Wehrpflicht, Pazifismus und Zivildienst. Sie sind merkwürdig, weil an ihrem Ende die Einsicht steht, dass jeder - ob General oder Friedensdemonstrant - einen wichtigen Anteil daran hatte, dass wir überhaupt darüber nachdenken, ob wir ohne die Wehrpflicht auskommen wollen. Und ohne den Zivildienst.

Der Zivildienst folgt der Wehrpflicht. Nicht nur die Grünen reiben sich darüber verwundert die Augen. Ach ja. Den Zivildienst haben wir nur deshalb, weil der Staat die jungen Männer zur Bundeswehr einziehen darf. So steht es im Grundgesetz. Die militärischen und zivilen Gemeinschaftsdienste waren Produkte eines äußeren Zwangs, des Ost-West-Konflikts. In diesem Konflikt hat die Freiheit gesiegt, folglich sollen nun auch die jungen Männer frei sein. Soziale Dienste stünden uns gut an, heißt es, aber bitte nur freiwillig.

Es stimmt, dass die Legitimation weggefallen ist, mit der die Gesellschaft die jungen Leute in die Pflicht nimmt. Grundsätzlich muss ein demokratischer Staat mit Zwang und Pflichten besonders vorsichtig umgehen. Und doch bleibt ein Unbehagen. Niemand freut sich richtig darüber, dass dieser Gemeinschaftsdienst entfällt. Militärs schätzen neuerdings verschämt den Zivildienst und Pazifisten die Wehrpflicht. Könnte es sein, dass nicht mehr äußerer Zwang, wohl aber die innere Entwicklung unserer Gesellschaft soziale Pflichtdienste legitimiert und erfordert? Und zwar so sehr, dass wir schon längst darüber nachdenken müssten? Wir sind freier als unsere Eltern und Großeltern, in jeder Hinsicht. Aber es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass mit wachsender individueller Selbstbestimmung der Bedarf an Gemeinschaftsleistung sinkt. Im Gegenteil: Weil die Individualisierung gesellschaftliche Nahsysteme wie die Familie unwiderruflich schwächt, strapaziert sie die kollektiven Großsysteme, den Staat und die Sozialversicherungen umso mehr.

Werden junge Leute eine moralische Pflicht gegenüber altgewordenen Helden der Börse empfinden, deren Kapital für 30 Jahre Pflegestation leider doch nicht reicht? Oder gegenüber der Greisin, die ihre Kinder großgezogen und trotzdem allein zurückgeblieben ist. Wohl kaum. Denn unsere Lebensweise wird die Jungen und diese Alten nicht mehr zusammenführen. Kurze Kindheit und eine ausgiebige, sehr freie Jugend. Jahre der beruflichen Anstrengung. Das lange Alter. Und irgendwo dazwischen die kurzen Jahre, in denen immer weniger Erwachsene mit immer weniger Kindern zusammenleben. Kein guter Wille, kein moralischer Zeigefinger, keine Sentimentalität kann diesen Trend aufhalten.

Wir zahlen Steuern und sind Recht und Gesetz unterworfen. Die Steuern sind natürlich zu hoch und die Gesetze so schlecht, dass sie dauernd geändert werden müssen. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, die Steuern abzuschaffen und dem Bürger anzuempfehlen, dass er selbst bestimmt, ob und wann er stehlen darf. Selbst hartgesottene Neoliberale wissen, was totale individuelle Freiheit wäre: totalitär. Gerade weil die Freiheit gesiegt hat, erledigt sich die Frage nicht, was freie Menschen mit ihr anfangen wollen. Es spricht viel dafür, die Bürgertugenden auszubauen: Wir achten die Gesetze. Wir zahlen Steuern. Und ein Lebensjahr geben wir Menschen, die wir nicht kennen. Auf die wir neugierig sind. Die uns Geschichte in Geschichten erzählen. Die unsere Hilfe brauchen.

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