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Politik: Die gedopte Gesellschaft

Von Peter von Becker

Wenn nur die Herzen und die Lippen sprechen, dann sind natürlich alle, alle gegen Doping. Und im Sport wie sonst im Leben für Fairplay! Deswegen auch die doppelte Empörung über das vermeintliche Doping-Geständnis des italienischen Radstars Ivan Basso, das sich als halbherziges Lippenbekenntnis entpuppte.

Kommt freilich erst der Kopf ins Spiel, dann mauern nicht nur ertappte oder beschuldigte Supersportler wie Basso, Jan Ullrich oder Lance Armstrong. Es bröckeln dann, genau besehen, auch die Fassaden einer Gesellschaft, die andauernd darauf erpicht ist, dass die Dinge und Menschen immer schneller, höher, weiter, immer effizienter und potenter laufen.

Viele sagen längst bei einem neuen Weltrekord in der Leichtathletik oder beim Schwimmen, die seien „sowieso alle gedopt“. Doch beim Sportfan bleibt die Sehnsucht nach dem reinen Talent, nach dem wahren Genie. Das wollen wir bewundern – und Höchstleistungen sehen. Aber wer ausgerechnet im hochbezahlten Spitzenleistungssport jene brüderliche Gleichheit der Gerechten sucht, die es nie gibt, wo Menschen im Konkurrenzkampf leben, der ist naiv. Oder scheinheilig.

Weniger idealistische Beobachter wundern sich indes, dass der des Blutdopings so sehr verdächtige Jan Ullrich noch immer so hartnäckig auf der Aussage beharrt, er habe niemanden betrogen. Dieses trotzige „Ich habe niemanden betrogen“ könnte in seiner Mehrdeutigkeit freilich eine subjektive Wahrheit enthalten: weil seine Mitkonkurrenten, allen voran Lance Armstrong, in der Einschätzung Ullrichs womöglich das Gleiche getan haben. Unter lauter Dopern gäbe es dann keine dopenden, allenfalls depperte Betrüger.

Ullrichs öffentlicher Trotz in Sachen Doping und die Reaktion manch anderer Extremleistungssportler trägt im äußeren Habitus gewiss viele Züge einer Schmierenkomödie von gekränkter Ehre und Unschuld. Aber man gewinnt auch den Eindruck: Einzelne, eben noch hochgefeierte Sportler wollen sich nicht mehr so ohne weiteres zu Sündenböcken der großen Herde machen lassen. Nicht zur Projektionsfläche einer gesellschaftlichen Empörung, die im ersten gerechten Zorn vergisst, dass auch der Sport nur ein Spiegel der Gesellschaft ist.

Nicht bloß ein ominöser spanischer Arzt, auch Sportmediziner der renommierten Freiburger Universität sind ja inzwischen in Verdacht geraten, bei unerlaubter Leistungsförderung mitgewirkt zu haben. Längst aber sind in Medizin und Gesellschaft die Grenzen verwischt zwischen der schieren Heilung von Krankheiten und der Steigerung von Gesundheit. Viele, die es sich leisten können, wollen heute immer mehr leisten. Wollen schöner, länger, vitaler leben und gehen dafür nicht allein zum Chirurgen. Sondern nehmen Spritzen und Pillen, immerzu. An amerikanischen Universitäten, so wird geschätzt, schlucken inzwischen bis zu 40 Prozent aller Studenten vor Prüfungen leistungssteigernde Psychopharmaka. Ähnliches gilt vermutlich in allen Wohlstandsregionen der Welt. Bei Prüfungen, Vorstellungsgesprächen, immer dann, wenn Höchstleistungen gefordert sind. Unzählige Politiker, Filmstars, Wirtschaftslenker sind innen und außen längst keine Natur-Produkte mehr. No dope no hope? Die Unterscheidung zwischen Droge und Medizin ist heikel geworden.

Heute nennt man’s die „Optimierung von Lebenschancen“, was eben noch als künstlicher Eingriff in Körper und Geist verpönt war. Konkurrenten, die in einer Welt der Amphetamine, von Silikon, Viagra oder gar Gentechnik nicht mitspielen, könnten da unentwegt über mangelndes Fairplay, über verletzte Chancengleichheit klagen. Fairplay aber schränkt, so kann man auch streng genommen sagen, die Freiheit der Leistungssteigerung und entsprechenden Lebensentfaltung ein.

Unfrei sind allerdings die Kinder, ob im einstigen Ostblock oder heute noch in China, die ohne Rücksicht auf spätere Gesundheitsschäden zu menschlichen Sportmaschinen hochgezüchtet werden. Da müssen strenge Anti-Doping-Gesetze sein. Bei erwachsenen Hochleistungsprofis, die freiwillig auch ihr Leben riskieren, wird es zweischneidig. Verbote fordern Fairness und fördern Doppelmoral. Das ist der Preis – des Richtigen im Falschen.

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