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Politik: „Die Gesundheitsreform benachteiligt arme Menschen“

Sachverständiger Rosenbrock über die Acht-Euro-Zusatzprämie und Möglichkeiten der Vorsorge

Geht die Gesundheitsreform auf Kosten sozial benachteiligter Menschen?

Der derzeitige Entwurf enthält an mindestens zwei Stellen sozialpolitisch nicht akzeptable Benachteiligungen armer Menschen. Das ist einmal die Regelung, dass eine Zusatzprämie von acht Euro ohne Einkommensprüfung erhoben werden darf. Sie bedeutet, dass alle Menschen mit einem Monatseinkommen unter 800 Euro, also die wirklich Armen, mehr als ein Prozent bezahlen müssen – was sowohl von der Symbolik als auch vom Faktischen her inakzeptabel ist. Dasselbe gilt für die Regelung, wonach diejenigen, die bestimmte Vorsorgeuntersuchungen nicht in Anspruch genommen haben, im Falle einer Erkrankung statt einem Prozent zwei Prozent ihres Einkommens für Zuzahlungen zu leisten haben.

Wie lässt sich denn Prävention voranbringen, wenn nicht durch Belohnung oder Bestrafung?

Die wirkliche Verhütung von Krankheiten findet ohnehin ganz überwiegend außerhalb des Versorgungssystems statt. Dort sind materielle Anreize von völlig untergeordneter Bedeutung. Die Verkürzung der Diskussion auf diesen Punkt hat das intellektuelle Niveau eines Stammtisches. Prävention kann hier nur im Rahmen umfassender Konzepte wirksam werden. Und im Medizinbetrieb wissen wir bei vielen Vorsorgeuntersuchungen gar nicht, ob sie die Wahrscheinlichkeit zu erkranken wirklich senken und die Heilungschancen erhöhen. Wir wissen auch nicht, ob Bonus- und Malus-Systeme überhaupt im gewünschten Sinn der Verhaltenssteuerung wirken.

Beim Zahnersatz funktioniert dieses Prinzip doch angeblich ganz wunderbar.

Alle reden davon. Wenn man aber nachforscht, und ich habe das getan, stellt man fest: Das ist nie evaluiert worden ist. Für die angebliche Wirkung des Bonusheftes bei der zahnärztlichen Versorgung gibt es keinerlei Nachweis.

Aber lässt sich deshalb die Wirkung materieller Anreize ausschließen?

Alle Früherkennungsuntersuchungen, auch die wirksamen, werden von sozial Benachteiligten sehr viel seltener in Anspruch genommen als von Gebildeten und besser Gestellten. Dass das so ist, ist keine Frage materieller Anreize. Es geht darum, den Menschen verständlich zu machen, warum es gut ist, zu einer Früherkennung zu gehen. Da ist eine Menge Motivationsarbeit zu leisten. Unser Krankenversorgungssystem verlässt sich hier aber, wie so oft, auf seine passive Struktur – nach dem Motto: Wenn die Leute kommen, ist es gut, wenn nicht, ist es auch gut. Daran müsste gearbeitet werden. Man muss sich das mal klar machen: Die meisten chronischen Erkrankungen treten in den unteren sozialen Schichten häufiger auf als in den oberen. Mit der geplanten Regelung verurteilt man also lebenslang chronisch Kranke zu einer lebenslangen Einkommenssenkung um ein Prozent.

Wie bringt man sozial Benachteiligte dazu, öfter zur Früherkennung zu gehen?

Im Ausland gibt es hervorragende Beispiele, wie man die Bereitschaft auch und gerade bei sozial Benachteiligten steigern kann. Indem man etwa persönliche Einladungsmechanismen einbaut, wie es jetzt in den Disease-Management-Programmen für Brustkrebs bereits begonnen wird. Oder indem man in der breiten Öffentlichkeit über Chancen und Risiken von Früherkennung redet. Man sollte Gesundheit und die Möglichkeiten, sie zu erhalten, aber nicht nur mit Plakaten und Shows thematisieren, sondern wirklich eine fundierte Debatte über erreichbare Gesundheitsziele in Gang setzen – und sie dann auch nachhaltig und für alle verständlich führen.

Die Fragen stellte Rainer Woratschka.

Rolf Rosenbrock , Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, leitet am Wissenschaftszentrum Berlin die Forschungsgruppe Public Health.

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