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Politik: Die Grenzen des Glücks

Von Malte Lehming

Was ist besser – das Glück auf Erden zu mehren oder das Gute zu tun? Die Frage verwirrt. Tut nicht jeder das Richtige, der zur Verbreitung des Wohlergehens beiträgt? Oder anders: Kann es geboten sein, das Streben nach Glück, das etwa in den Vereinigten Staaten von der Verfassung garantiert wird, einzuschränken, obwohl die Einschränkung niemandem konkret nützt? Das Gute befördern oder das Gute tun: Manchmal können diese Ziele in einen Widerspruch geraten. Dann steht der Mensch vor einem Dilemma. Er hat das Gefühl, sich schuldig zu machen, ganz gleich, wie er sich entscheidet. Dieses Gefühl quält. Und was quält, soll aus der Welt. Durch Klarheit, durch Absolution. Je verzwickter eine Lage, desto rigider fallen oft die Urteile über sie aus.

In den USA ist vor wenigen Tagen ein Fall bekannt geworden, der in Windeseile um die Welt ging. Ashley ist ein neunjähriges, geistig behindertes Mädchen. Es leidet an einer irreversiblen Hirnerkrankung, befindet sich mental dauerhaft auf dem Niveau eines drei Monate alten Babys. Ashley kann weder gehen noch sprechen, weder den Kopf aufrecht halten noch sich umdrehen. Von seinen Eltern, den Großmüttern und zwei gesunden jüngeren Geschwistern wird es rund um die Uhr gepflegt. Ernährt wird es über eine Sonde, meist liegt es auf einem großen Kissen. Als Ashley sechs war, verfügten seine Eltern, dessen Wachstum zu stoppen. Das geschah mittels einer Hormonbehandlung und zwei radikaler Operationen: Die Gebärmutter wurde herausgenommen und die Brust amputiert. Das löste einen Sturm der Entrüstung aus.

Ashleys Eltern hatten es sich nicht leicht gemacht mit ihrer Entscheidung. Sie konsultierten Ärzte und Experten, eine 40-köpfige Ethikkommission unterstützte schließlich ihr Vorhaben. Geleitet worden, sagen die Eltern, seien sie stets von der Frage, was für das Kind am besten sei. Sie wollten Ashleys „Lebensqualität“ erhöhen. Nun werde sie nie Menstruationsbeschwerden haben, lasse sich leichter tragen und baden, ihre Lunge und Blase würden geschont, sie könne weiter an Familienaktivitäten teilnehmen und zu Hause gepflegt werden. Kurzum: Allen Beteiligten ginge es besser. Und es sei höchst unwahrscheinlich, dass Ashley unter ihrem gehemmten Wachstum leide, Gebärmutter und Brust vermisse oder sich gar in ihrer Menschenwürde verletzt fühle. Zu solchen Empfindungen sei sie mental nicht in der Lage.

Niemandem wird geschadet, das Glück vermehrt: Man muss sich auf die argumentative Wucht dieser Erwartung einlassen, um das Dilemma zu verstehen. Ashleys Eltern sind nicht böse, sie lieben ihr Kind und wollen dessen Bestes. Sie wissen, dass man ihnen Bequemlichkeit vorwirft und Anmaßung. Sie verhöhnten die Natur, heißt es, spielten Gott. Einige Kritiker wollen ihnen gar das Verfügungsrecht über ihr Kind entziehen lassen. Das alles ficht sie nicht an. In den Lauf der Natur griffen Mediziner ständig ein, replizieren die Eltern, und es sei in erster Linie nicht darum gegangen, die Arbeit der Pflegenden zu erleichtern, sondern das Leben Ashleys.

Trotzdem ist das, was sie taten, falsch. Die Würde des Menschen zu schützen, ist ein absolut geltendes Gebot, das nicht daraus resultiert, dass der Schutzbefohlene eine Empfindung für seine Würde hat. Drastische chirurgische Eingriffe, die nicht aus medizinischer Notwendigkeit erfolgen, darf niemand für einen anderen ohne dessen Zustimmung anordnen. Erwachsene gehen zum Schönheitschirurgen, der sie unters Messer nimmt. Aber würden wir es richtig finden, wenn Eltern ihr etwas moppeliges Kleinkind zum Schönheitschirurgen schicken, damit es nach entsprechender Operation im Kindergarten besser mitturnen kann?

Zum menschenwürdigen Leben gehört das Recht auf freie Entfaltung – nicht nur der eigenen Möglichkeiten, sondern auch des eigenen Körpers. Im Fall Ashley heißt das: Es gibt Zustände und Entwicklungen, die wir erdulden und akzeptieren müssen, obwohl wir sie ändern könnten. Das Richtige zu tun, wäre wichtiger gewesen, als das Glück zu mehren.

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