zum Hauptinhalt
Die Bundesvorsitzende der Grünen, Simone Peter, hat die parteiinterne Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung geleitet

© dpa/Bernd Thissen

Die Grünen in den 80er Jahren: "Sensibilität für sexuellen Missbrauch gab es nur bei einzelnen"

Die Pädophilie-Debatte hat den Grünen im Wahlkampf 2013 massiv geschadet. Doch die Partei hat ihre eigene Geschichte in den letzten Jahren gründlich aufgearbeitet.

Nach zweieinhalb Jahren intensiver Aufarbeitung haben die Grünen einen gut 300 Seiten starken Bericht vorgelegt, der sich mit der Offenheit der Partei für pädosexuelle Forderungen Anfang der 80er Jahre beschäftigt. Unter Leitung von Grünen-Chefin Simone Peter untersuchte eine Arbeitsgruppe, wie es in den Gründungsjahren dazu kommen konnte, dass die Forderung nach Straffreiheit für pädophile Handlungen Eingang in grüne Parteibeschlüsse finden konnte. Es handele sich um „ein bedrückendes Kapitel“ der Parteigeschichte, das „viel zu lange ausgeblendet“ worden sei, heißt es in dem Abschlussbericht, der dem Tagesspiegel vorliegt. „Zu den bittersten Erkenntnissen der Aufarbeitung gehört, dass es unter den pädophilen Aktivisten auch Täter mit grünem Parteibuch gab.“

Parteichefin Peter spricht von einer "historischen Verantwortung"

Die Forderungen nach Straffreiheit seien "inakzeptabel" gewesen, sagte Parteichefin Peter dem Tagesspiegel. "Täter konnten die Beschlüsse der Grünen als Legitimation verstehen. Wir können heute kaum ermessen, wie verstörend das für die Betroffenen sexuellen Missbrauchs gewesen sein muss. Daraus ergibt sich für uns eine historische Verantwortung, der wir uns stellen müssen."

Ab Mitte der 80er Jahre verloren pädophile Positionen bei den Grünen zunehmend an Gewicht, im Jahr 1989 verabschiedete sich die Partei auf Bundesebene unmissverständlich von jeder Unterstützung pädosexueller Forderungen. Dennoch wurde in einzelnen Landesverbänden wie Berlin die Debatte noch bis in die Mitte der 90er Jahre geführt. Nach der Distanzierung Ende der 1980er Jahre habe die Partei den Fehler gemacht, diesen Abschnitt als politisch abgeschlossen zu betrachten, heißt es in dem Bericht. "Viel zu spät wurde mit der Aufarbeitung des Geschehenen begonnen."

Die Debatte hat im Wahlkampf massiv geschadet

Die Pädophilie-Debatte hat den Grünen im Bundestagswahlkampf 2013 massiv geschadet - nicht nur, weil sie Wähler verstörte, sondern auch, weil sie die eigenen Mitglieder demotivierte. Nach der Wahl beschloss die Parteiführung, es nicht bei der wissenschaftlichen Untersuchung durch den Göttinger Forscher Franz Walter zu belassen, sondern auch eine eigene Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung einzusetzen.

Um die Diskussionen der 80er Jahren besser nachvollziehen und einordnen zu können, befragte die Arbeitsgruppe auch Zeitzeugen. In Teilen der Schwulenbewegung, die damals selbst Diskriminierung und Kriminalisierung ausgesetzt gewesen sei, habe es eine "Tendenz zur instinktiven Solidarisierung" mit der ebenfalls ausgegrenzten Gruppe der Pädosexuellen gegeben. Da der Schutz von Minderheiten eine wichtige Rolle in der Partei gespielt habe, hätten die Forderungen von pädophilen Aktivisten hier verfangen können.

Gegenwehr gab es aus der Frauenbewegung

Die Positionen seien damals auch deswegen nicht auf stärkeren Widerstand gestoßen, weil die Diskussionen nicht in einer breiten Öffentlichkeit stattfanden. Wenn es Gegenwehr gegen die Durchsetzung pädophiler Forderungen gab, sei die damals aus der Frauenbewegung gekommen, heißt es in dem Bericht. Charakteristisch für die Anfangszeit der Grünen sei ein Nebeneinander verschiedener Strömungen und Gruppen gewesen, die sich jeweils wenig um die Themen der anderen kümmerten. "Ein lauter und aktiver Protest blieb aus, eine Sensibilität für sexuellen Missbrauch gab es nur bei einzelnen", heißt es weiter.

Anlaufstelle für Betroffene sexuellen Missbrauchs eingerichtet

Zu den schwierigsten Aufgaben der Arbeitsgruppe habe es gehört, angemessene Wege für Betroffene sexuellen Missbrauchs zu eröffnen, den Grünen ihre Geschichte zu offenbaren, heißt es in dem Bericht. Die Partei ließ sich dabei vom Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sowie von Vertretern von Betroffenen-Organisationen wie Tauwetter, Zartbitter, Wildwasser und Glasbrechen beraten. Der Bundesvorstand richtete eine telefonische Anlaufstelle und einen Mailkontakt ein, sowie einen Anhörungsbeirat, in dem unter strikter Vertraulichkeit beraten wird.

In drei Fällen gab es Zahlungen als Anerkennung des Leids

Insgesamt haben sich bisher zwölf Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs an die Grünen gewandt. In sechs Fällen war dabei kein direkter Zusammenhang zur grünen Partei ersichtlich. In drei Fällen wurde den Betroffenen auf Empfehlung des Anhörungsbeirats eine Zahlung in Anerkennung des erfahrenen Leides gewährt, weil in diesen Fällen eine „institutionelle Mitverantwortung“ der grünen Partei nicht auszuschließen sei. Dabei sei es um Fälle langjährigen Missbrauchs Anfang der 80er Jahre in der christlichen Emmaus-Gemeinde auf dem Dachsberg in Kamp-Lintfort gegangen.

Ein weiterer Fall wird derzeit vom Anhörungsbeirat beraten. In zwei weiteren Fällen konnte der Sachverhalt nicht weiter geprüft werden, weil es bei einem anonymen Erstkontakt geblieben sei.

Strukturen stärken, die sexueller Gewalt vorbeugen

Als Lehre aus der eigenen Geschichte wollen die Grünen nun „dazu beitragen, die Strukturen zu stärken, die sexueller Gewalt vorbeugen“, heißt es in dem Bericht. Das gilt auch für die Partei selbst: Auf Bundes- und Landesebene wurden in den letzten Monaten Ombudsleute eingesetzt und geschult, die rund um das Thema sexueller Missbrauch ins Vertrauen gezogen werden können. Derzeit ist außerdem ein Leitfaden zur praktischen Unterstützung in Arbeit. Die Arbeit der Kommission sei zu Ende, sagt Parteichefin Peter. "Aber die Aufarbeitung hört nicht auf. Für Betroffene werden wir weiter erreichbar sein, über die Hotline, den Mailkontakt und den Anhörungsbeirat."

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false