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Die Grünen: Unsere kleine Volkspartei

Zu den Guten zählten sich die Grünen immer. Nun sind sie auch noch erfolgreicher als je zuvor. In Umfragen liegen sie im Bund bei 20 Prozent, in Berlin bauen sie den Vorsprung zur SPD aus. Das wird ihnen selbst unheimlich.

Von Hans Monath

Für die einen ist es ein Edelghetto von Umweltfreunden, für die anderen eine lebendig gewordene Utopie. Das Freiburger Wohnviertel Vauban gilt als ökologische Vorzeigesiedlung. Autos sind von den Straßen zwischen den Niedrigenergiehäusern fast vollständig verbannt, für sie gibt es am Rand des Stadtteils eine „Solargarage“. Bunte Holzbalkone und begrünte Fassaden prägen das Bild, junge Mütter schieben hier Kinderwagen der 1000-Euro-Klasse über den Marktplatz. Die Kindertagesstätten heißen „Immergrün“ oder „Wilde Mathilde“. Wer im Laden gewöhnliches Weißmehl verlangt, gilt dagegen bereits als Exot. Und manchmal beklagen Bewohner, ihre Nachbarn würden mit „an Stasi und Gestapo erinnernden Methoden“ Verstöße gegen ökologisch-korrektes Verhalten protokollieren.

Freiburg ist eine Hochburg der Grünen, die im Gemeinderat die stärkste Fraktion und den Oberbürgermeister stellen. Und das Vauban-Quartier, dessen Bewohner die „New York Times“ als „suburban pioneers“ („Pioniere der Vorstadt“) bejubelte, ist die Hochburg der Hochburg. Nirgendwo sonst sorgen die Menschen immer wieder für so hohe Wahlergebnisse der Ökopartei wie hier.

Ermöglicht das Vauban-Viertel womöglich einen Ausblick auf die nahe Zukunft, in der die Grünen auch außerhalb Freiburgs den Status der Kleinpartei hinter sich lassen? Ist hier zu besichtigen, was passiert, wenn sie Politik und Gesellschaft künftig viel stärker ihren Stempel aufdrücken? Wird dann auch in Berlin und anderen Städten ein „Autofrei-Verein“ streng kontrollieren, wer heimlich einen Wagen nutzt, den er auf seinen Bruder angemeldet hat?

Die Republik muss sich darauf einrichten, dass die Grünen stärker mitreden werden. Seit der Bundestagswahl im vergangenen Herbst, als die Partei 10,7 Prozent der Stimmen erhielt, hat sie einen rasanten Aufstieg hingelegt. Wären am Sonntag Bundestagswahlen, so würden laut Demoskopen 17 bis 21 Prozent der Wähler für sie stimmen. Deren Umfragen zufolge könnte die Partei ihre Mandate in wichtigen Landtagen verdoppeln. In Baden-Württemberg, wo im März gewählt wird, liegt die Ökopartei vor der SPD. Und in Berlin hat Renate Künast, die Chefin der Bundestagsfraktion, die Chance, Klaus Wowereit im Herbst 2011 als Regierenden Bürgermeister abzulösen, wenn sie denn den Anspruch verkündet, die Stadt zu führen.

Noch zögert Künast vor dem Schritt in die Landespolitik. Dabei bauen die Hauptstadt-Grünen nach neuesten Erhebungen ihren Vorsprung vor der SPD sogar aus. Vielleicht ist Künast wie manchem Grünen Spitzenpolitiker der eigene Aufschwung auch unheimlich. Denn Umfragen sind keine Wahlergebnisse und wecken doch hohe Erwartungen. Die meisten neuen Sympathisanten, aber nicht alle, haben früher SPD gewählt. Viele, die in Umfragen oder bei der NRW-Landtagswahl im Mai für die Ökopartei votierten, werden vom Versagen der schwarz-gelben Bundesregierung abgestoßen. Da hilft es, dass die Erben Jutta Ditfurths und Joschka Fischers sich schon lange nicht mehr in Flügelkämpfen verschleißen, sondern gemeinsame Botschaften verbreiten. Sogar Jürgen Trittin, zur Zeit der rot-grünen Regierung als Umweltminister noch der Buhmann der Politik, gilt einer Mehrheit heute als seriös und vertrauenswürdig.

Das Vauban-Viertel würde Manfred Güllner gefallen. Nicht weil sich der Meinungsforscher nach ökologisch korrektem Wohlstandsperfektionismus sehnt, sondern weil er dort viele seiner Urteile über Grünen-Wähler bestätigt fände. Als „eine Klientelpartei, eine Oberschichtenpartei, eine Partei des öffentlichen Dienstes“ beschreibt der Forsa-Chef die Partei, deren notorisch gutes Gewissen ihm suspekt ist. „Die Grünen fühlen sich als Advokaten der gesamten Menschheit, sie sind es aber nicht“, sagt er. In Wirklichkeit verfolgten ihre Politiker „knochenharte Klientelpolitik“. Und weil sie sozial und kulturell zu homogen seien, wüssten sie nichts über die Interessen anderer Bevölkerungsgruppen. Kein Wunder, dass die „Badische Zeitung“ das Vauban-Viertel eine „Großwohngemeinschaft für gebildete Besserverdiener“ nannte.

Wenn man dagegen den Göttinger Parteienforscher Franz Walter in das Öko-Quartier einladen würde, käme er wahrscheinlich zu einer anderen Antwort. In seinem Buch „Gelb oder Grün?“ hat er die Anhänger der Liberalen und der Ökopartei verglichen, die er beide zu den Arrivierten der Gesellschaft zählt. Bei der FDP, so der Politikwissenschaftler, dominiere der Typus des jungen Mannes, der mehr „Netto vom Brutto“ wolle, bei den Grünen die akademische Frau mittleren Alters, der „eine ordentliche sozialstaatliche Infrastruktur wichtig“ sei. Die Liberalen schauten auf den eigenen Vorteil, die Grünen seien bereit, für das Gemeinwohl abzugeben. Diese „Uneigennützigkeit“ komme in den Forderungen der Partei nach einer Bürgerversicherung, nach Klimaschutz und Gemeinschaftsschulen zum Ausdruck.

Es ist kein Wunder, dass nicht Güllners Thesen, sondern Walters Buch auf dem Podium lobend erwähnt wurden, als kürzlich die „Heinrich-Böll-Stiftung“ in Berlin über die Zukunft der Partei debattierte. „Ü 30! – Die Grünen vor neuen Herausforderungen“ hieß die Überschrift. Mit der Zahl „Ü 30!“ war das Alter der 1980 gegründeten Partei gemeint und nicht die angepeilte Prozentmarke für die nächste Bundestagswahl.

Im elegant-ökologischen Glaspalast der Stiftung in Berlin-Mitte fanden die grünen Spitzenpolitiker Cem Özdemir, Claudia Roth, Renate Künast und Jürgen Trittin wenig Grund zur Selbstkritik. Nicht einmal im Höhenrausch der Umfragen kommt ihnen in den Sinn, den Bürgern einen streng ökologischen Lebensstil wie im Vauban-Quartier vorzuschreiben, den die Mehrheit der Deutschen als Zumutung empfände. Dazu wirkt die Lektion des Fünf- Mark-für-Benzin-Beschlusses aus dem Jahr 1998 noch immer zu lebhaft nach.

Wenn man Parteichef Cem Özdemir in seinem Büro im Altbau der Grünen in Berlin-Mitte nach Güllners These fragt, wonach die politischen Wettbewerber grünen Themen hinterher liefen und das Original damit stark machen, antwortet er routiniert, das sei „nicht falsch, aber unterkomplex“. Denn vor allem seien die Themen der Grünen in die Mitte der Gesellschaft gewandert und hegemonial geworden, allen voran die Ökologie: „Nicht nur die Grünen haben sich verändert, auch die Gesellschaft hat sich verändert“, sagt der 44-Jährige.

In seiner Anfangszeit als Parteichef vermissten vor zwei Jahren viele ein eigenes Profil Özdemirs, der „Spiegel“ verhöhnte ihn als profillosen „Unisex-Politiker“. Seit für die Grünen der Himmel nach oben aber offen steht, fragt niemand mehr danach, wo sich der „Realo“ gegen linke Mehrheiten durchsetzt. So stark fühlen sich die Grünen, dass sie den Konkurrenten SPD und CDU den Charakter von Volksparteien schlichtweg absprechen.

Wenn es um die eigenen Ambitionen in diese Richtung geht, werden sie dagegen merkwürdig unscharf. Renate Künast flüchtet sich dann gern in den Begriff „Wertepartei“. Auch Özdemir will keine Volkspartei-Debatte führen. Er erinnert lieber daran, dass Parteiikone Petra Kelly früher von der „Anti-Parteien-Partei“ gesprochen habe: „Das hat sich im Kern nicht geändert. Wir sind immer noch die etwas andere Partei.“

Auf bestimmte Weise sind sich die Grünen und ihr Chef im Moment sehr ähnlich: Höflich und sympathisch im Auftreten, hartnäckig in der Sache und trotzdem ziemlich unverwechselbar. Kleine Widersprüche erhöhen offenbar nur die Attraktivität des Unternehmens. Während die Mehrheit der Grünen-Anhänger ein Bündnis mit der SPD bevorzugt, erwähnt Özdemir gern seine Freundschaften zu wichtigen CDU-Politikern. Politisch produktiv wird diese Nähe so schnell nicht werden – nicht nach der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke.

Geschickt gelingt es den Grünen im Moment, alle möglichen Rollen zugleich einzunehmen, ohne dass die politische Öffentlichkeit an dieser multiplen Existenz Anstoß nehmen würde. Özdemir sitzt seit wenigen Monaten im Beirat des Bundesverbands mittelständischer Wirtschaft und findet bei den Unternehmern offene Ohren und neue Freunde. Künast wird Ende des Monats beim „Tag der deutschen Industrie“ in Berlin eine der Hauptreden halten. Gleichzeitig wird die Grünen-Führung bei den Großdemonstrationen gegen Atomkraft in diesem Herbst den Ton angeben. Und in Stuttgart heizt die Partei den Protest gegen den Bahnhofsumbau („Stuttgart 21“) an. Darf eine künftige 20-Prozent-Partei, die in Nordrhein-Westfalen, in Hamburg und im Saarland mitregiert, auch auf der Straße Politik machen? Wo der Protest zur bürgerlichen Verhaltensform geworden ist, scheint sich der Widerspruch aufzulösen.

Dabei zu sein, wo Protest laut wird, das gehört auch im 30. Lebensjahr noch zu den grünen Grundinstinkten. Einer, der sich mit Mechanismen grüner Politik und ihren Fallstricken gut auskennt, ist Oberbürgermeister Dieter Salomon aus Freiburg. Der hoch gewachsene Politiker mit dem freundlichen Lachen wurde vor acht Jahren zum bisher einzigen grünen OB einer deutschen Stadt mit mehr als 200 000 Einwohnern gewählt und im April im Amt betätigt. Die Gefahr, dass seine Partei außerhalb Freiburgs die Interessen eines bestimmten Milieus gegen Gesamtinteressen vertritt, hält er nicht für gebannt. „Diese Versuchung ist für Grüne immer groß“, sagt er.

Wie man mit gewachsener politischer Macht umgeht, darin hat Salomon mehr Erfahrung als viele Grüne im Rest der Republik. Bündnisfähig bleiben, das ist für ihn die zentrale Voraussetzung, um eigene Pläne wahr zu machen. „Wir sind in Freiburg eine kleine Volkspartei“, sagt er. Diese kleine Volkspartei stehe auch dann zu Entscheidungen, wenn die wie das Vorgehen gegen eine Wagenburg auf städtischem Grund oder die Sanierung des Haushalts mit massiven Kürzungen umstritten seien.

Gerade mit Blick auf den Wahlkampf in Berlin im kommenden Jahr fragen sich grüne Strategen, ob sich ihre Parteifreunde wirklich schon klar gemacht haben, was der Anspruch bedeutet, die Hauptstadt als stärkste Kraft zu gestalten. Denn dann müsste womöglich ein grüner Innensenator am 1. Mai gegen linke Demonstranten vorgehen oder ein grüner Finanzsenator soziale Projekte streichen und Nullrunden verordnen. Ob die Hauptstadt-Grünen ein solches Programm in aller Konsequenz mittragen wollen, ist bislang noch ungewiss – und gilt als einer der Gründe, warum sich Künast ziert, ihren Hut in den Ring zu werfen.

So weckt das derzeitige Umfragehoch unter grünen Parteifreunden auch Erinnerungen an den zurückliegenden Höhenflug der FDP. Werden ihre Anhänger sie nach einem Wahlerfolg dann auch verfluchen, weil sie die selbst geweckten hohen Erwartungen in der Regierung nicht bedienen können? Pragmatiker Salomon, der schon Bücher über grünes Regieren schrieb, als fundamentalistische Parteifreunde noch die Sitzblockade als höchstes Glück priesen, warnt vor dem Risiko, dass „nach dem Wahltag politische Nichtschwimmer in der Fraktion sitzen, die ohne Erfahrung regieren sollen“. Im besten Fall würden die politisch unbeleckten Abgeordneten kaum in Erscheinung treten. „Im schlimmsten Fall aber“, sagt Salomon, „im schlimmsten Fall verbünden sich die Querulanten und machen der Führung das Leben schwer.“

In zwei Monaten kann Salomon solche Erfahrungen seiner Partei persönlich erklären. Dann versammeln sich die Grünen in der Neuen Messe in Freiburg zum Bundesparteitag. Bis zum Vauban-Viertel kann man von dort mit der Straßenbahn fahren. Ganz freiwillig.

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