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Die Kurden und ihr Führer Abdullah Öcalan: Der große Unsichtbare

Sie hungern und sie frieren für ihn. Eine neue Generation von Kurden kämpft für die Freilassung von Abdullah Öcalan, der ins Gefängnis ging, als sie noch Kinder waren. Sie wissen nichts von Zweifeln oder Kritik, nichts von Schuldbekenntnissen des PKK-Chefs, sie hören nur von Stärke – und hoffen darauf.

Ein kalter Herbstwind fegt über den Spielplatz, der den kurdischen Aktivisten im Istanbuler Stadtteil Gazi als Hauptquartier dient. Ali Bozkur zieht sich die gemusterte Wollmütze über die Ohren, bevor er sich in einen Sessel fallen lässt, seine Hände an das qualmende Holzfeuer streckt und einen Gruß auf Kurdisch murmelt. Der Wind zerrt an den Zeltplanen, die als Regenschutz über das Klettergerüst gespannt sind, und an den PKK-Plakaten, die die Besetzer am Maschendrahtzaun des Spielplatzes befestigt haben. Sie fordern: „Freiheit für Abdullah Öcalan.

Ali Bozkur, 23 Jahre alt, gehört zur Stammbesatzung der Mahnwache, die seit Wochen bei Wind und Wetter für die Freilassung von Abdullah Öcalan demonstriert – für einen Mann, der seit mehr als 13 Jahren nicht mehr gesehen worden ist.

Ein Knirps von kaum zehn Jahren war Bozkur, als Öcalan hinter Gitter wanderte, doch er erinnert sich noch genau an jenen Tag, den 16. Februar 1999. Im Teehaus seines Vaters in der kurdischen Kleinstadt Bismil bei Diyarbakir lief der Fernseher, und die ganze Nachbarschaft stürzte herbei, um die dramatischen Nachrichten selbst zu sehen und begreifen zu können: Abdullah Öcalan, Gründer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Anführer des kurdischen Unabhängigkeitskampfes, Rächer des kurdischen Volkes, war von einem türkischen Sonderkommando in Kenia geschnappt und, wie ein Paket verschnürt, mit zugeklebten Augen in die Türkei gebracht und eingesperrt worden. Entsetzt saßen die Zuschauer im Teehaus von Bismil vor dem Fernseher. Bevor das Entsetzen umschlagen konnte in Wut, stürmten Soldaten das Teehaus und schickten alle nach Hause.

Dem kleinen Ali war klar, dass etwas Furchtbares geschehen war – so ähnlich wie als ein Freund seines Vaters verschwunden und eine Woche später zu Tode gefoltert auf der Müllkippe von Bismil gefunden worden war. Wer Abdullah Öcalan ist, das wusste er längst: Zwei Finger zum Siegeszeichen zu spreizen, wenn jemand „Biji Serok Öcalan“ – Kurdisch für „Hoch lebe der Führer Öcalan“ – sagt, das hatte der Vater ihm schon mit vier oder fünf Jahren beigebracht. Der Reflex funktioniert bei Ali Bozkur knapp zwei Jahrzehnte später noch immer, auch wenn der Vater nicht mehr lebt.

Als Flüchtling ist der Vater in Bismil gestorben, ein gebrochener Mann, der außer Ali noch 28 andere Kinder hinterlassen hat. Als wohlhabender Großbauer hatte Vater Bozkur sich vier Frauen leisten können; doch bis Ali zur Welt kam, war es längst vorbei mit dem Wohlstand, mit den Ländereien und dem Besitz der Familie in ihrem angestammten Dorf im Bezirk Silvan bei Diyarbakir. Der Staat hatte sie 1985 vor die Wahl gestellt, als die „Dorfschützer“ aufgestellt wurden, die staatstreue Kurdenmiliz, die im Krieg gegen die PKK an vorderster Front steht: Entweder müssten sie sich verpflichten zum bewaffneten Kampf gegen die PKK – oder das Dorf verlassen. Die Sippe der Bozkurs lehnte ab; das Letzte, was sie vom Dorf sahen, waren ihre brennenden Häuser.

Als Flüchtlingskind wuchs Ali Bozkur deshalb in Bismil auf. Als er eingeschult wurde, musste er viel auswendig lernen. Die Nationalhymne und den Eid, der beim Fahnenappell auf dem Schulhof geschworen werden muss: „Ich bin Türke, ehrlich und fleißig ... Ich liebe meine Nation mehr als mich selbst ... Wie glücklich, wer sich Türke nennen darf.“ Bozkur verstand kein Wort, denn er sprach kein Türkisch. Silbe für Silbe lernte er die Texte, ohne sie zu verstehen, und wenn es nicht flutschte, setzte es Hiebe vom Lehrer. Die Mutter konnte nicht für ihn intervenieren, denn sie konnte auch kein Türkisch, konnte sich also nicht mit den Lehrern an der staatlichen Schule verständigen. Es dauerte bis zur dritten Klasse, bis der Junge sich Wort für Wort die Sprache zusammengeklaubt hatte und im Unterricht mitkam.

Zum Tode verurteilt, aber der EU zuliebe nicht aufgeknüpft

Studiert hätte er gerne, sagt er, und blickt in die Flammen, die in der verkohlten Tonne auf dem Spielplatz auflodern, wenn der Wind hineinfährt. Doch über die Grundschule ist er nicht hinausgekommen. In Bismil gab es nichts zu beißen oder brechen für die Familie. Mit elf Jahren kam Ali Bozkur deshalb nach Istanbul, um Geld zu verdienen, zusammen mit fünf seiner Brüder. Seither arbeitet er hier in der Textilindustrie, in den Kellerwerkstätten und schwarzen Zulieferbetrieben, mit denen die großen Markenhersteller die Arbeitsschutzbestimmungen umgehen. Seit zwölf Jahren, sechs Tage die Woche, zwölf bis dreizehn Stunden am Tag, für 305 Euro im Monat und unversichert.

„Evarbas“ grüßen auf Kurdisch die Frauen und Männer jeden Alters, die auf den Spielplatz kommen und sich zur Gruppe gesellen. Bis zur Dunkelheit werden es hunderte Menschen sein, die sich hier um das Feuer scharen und kurdische Kampflieder der Guerilla singen. Ali Bozkur fühlt sich wohl zwischen den Menschen hier in Gazi, einem Außenbezirk von Istanbul, auf dessen Straßen Kurdisch gesprochen wird und in den sich die türkische Polizei nur mit gepanzerten Mannschaftswagen hineinwagt. Umgekehrt verlässt Bozkur seinen Stadtteil nur selten, aus Angst vor Scherereien mit türkischen Nationalisten und davor, als Kurde schief angeschaut zu werden.

Eine Massenbewegung ist die Mahnwache in Gazi dennoch nicht. Auf dem Wochenmarkt rings um den besetzten Spielplatz drängen sich die Anwohner des kurdischen Viertels, kaufen Gemüse, Unterwäsche und Haarschmuck, und würdigen die Mahnwache keines Blickes. Als „Menschen, die sich selbst verloren haben“, bezeichnet Bozkur sie verächtlich, und als assimilierte Kurden, die ihre Identität preisgegeben hätten.

Dreimal hat die Polizei das nicht genehmigte Zeltlager auf dem Spielplatz schon geräumt, mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Tränengas; dreimal haben es die Aktivisten wieder aufgebaut. Sie wollten solidarisch sein mit den rund 700 kurdischen Häftlingen in türkischen Gefängnissen, die zwei Monate lang hungerten und so streikten für die Freilassung von Abdullah Öcalan – dem Rebellenchef, der in dreizehneinhalb Jahren auf einer Gefängnisinsel im Marmarameer keineswegs in Vergessenheit geraten ist.

Zum Tode verurteilt, mit Rücksicht auf die EU nicht gleich aufgeknüpft und schließlich durch die Abschaffung der Todesstrafe vor dem Strang gerettet, hatte Öcalan seine Truppen in den ostanatolischen Bergen und seine Anhänger in der Türkei und Europa noch jahrelang über seine Rechtsanwälte von der Insel aus fernsteuern können – solange er sich moderat gab, für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage plädierte und deeskalierend auf seine Organisation einwirkte. Seit im vergangenen Jahr aber die Geheimgespräche scheiterten, in denen der türkische Staat mit dem Rebellenchef über eine Lösung des Kurdenkonflikts verhandelte, ist das Boot, mit dem die Anwälte von der Küstenwache zur Insel übergesetzt werden, plötzlich permanent „kaputt“ – und Öcalan daher nicht mehr in der Lage zu kommunizieren. Nur seinen Bruder, Mehmet Öcalan, haben die Behörden vor ein paar Wochen einmal hinüber geschippert, um Gerüchte zu zerstreuen, der Gefangene sei tot.

Zumindest bis Öcalan wieder regelmäßig von seinen Anwälten besucht werden kann, wollten die Häftlinge im Hungerstreik bleiben. Unter ihnen ist auch ein Cousin Ali Bozkurs, der 35-jährige Adil. Die beiden waren zusammen auf der Großdemonstration in Diyarbakir im Frühjahr 2006, die in flammenden Straßenkämpfen mit der Polizei endete. Der Junge hatte mehr Glück als sein älterer Cousin, konnte in Handschellen und mit gebrochener Nase weglaufen. Adil aber wurde festgenommen und zu knapp sieben Jahren Haft verurteilt. Seit zwei Monaten hat die Familie ihn bei Besuchsterminen im Gefängnis nicht mehr zu sehen bekommen; erst vor kurzem erfuhren sie, dass auch er am PKK-Hungerstreik teilnimmt. „Wie es ihm geht, wissen wir nicht“, sagt Bozkur. „Wir können ihn nicht erreichen.“

Für den 63-jährigen Abdullah Öcalan riskiert Cousin Adil sein Leben, für Abdullah Öcalan kämpft Ali Bozkur im kalten Wind auf dem besetzten Spielplatz von Gazi. An „Freiheit für Öcalan“ hängt die Hoffnung dieser jungen Kurden. Von den Zweifeln und der Kritik an Öcalan, die nach dessen Festnahme die Kurdenbewegung gebeutelt haben, weiß Bozkur nichts; auch nicht von den Schuldbekenntnissen des PKK-Chefs vor seinem türkischen Richter oder von der Abspaltung des halben PKK-Zentralkomitees, den Richtungskämpfen, den Verfolgungen und blutigen Abrechnungen in den Bergen, die darauf folgten. Schließlich war er damals noch ein Kind. Ein Jahrzehnt später ist der Mythos des Rebellenchefs wieder intakt – eine neue Generation von jungen Kurden kämpft für Öcalan.

Daheim in Bismil geht inzwischen die nächste Generation der Bozkurs in die Schule. Seine vielen Nichten und Neffen haben es leichter als er damals, erzählt Ali Bozkur. An den staatlichen Schulen im Südosten der Türkei unterrichten heute kurdische Lehrer, die es den Kindern einfacher machen, die Landessprache zu erlernen. In Schulen, Krankenhäusern und sogar Rathäusern im türkischen Kurdengebiet wird heutzutage zwanglos Kurdisch gesprochen, wenngleich die offizielle Amtssprache nach wie vor Türkisch ist.

Der türkischen Regierung will Bozkur aber keine Verdienste daran zubilligen. Die Regierungspartei wolle mit ihren Reformen „doch nur die Wählerstimmen der Kurden erringen“, sagt er bitter, als sei das ein unsittliches Anliegen. Nein, findet er, wenn es den Kurden heute besser gehe als noch vor einem Jahrzehnt, dann sei das einzig und allein das Verdienst der PKK und ihres bewaffneten Kampfes.

Der Abend dämmert. Eine alte Frau, die das weiße Kopftuch der Kurdinnen trägt und nur zwei Goldzähne im Mund hat, stimmt ein Klagelied an. Freilich, gibt Bozkur zu, während er sich eine Zigarette am Feuer anzündet, was Öcalan nach seiner Freilassung tun werde, was er denke und wolle, das wisse man nicht. Ali Bozkur weiß ja selber nicht so genau, was er will und was aus ihm werden soll. In Istanbul fühlt er sich fremd und unglücklich. In Bismil gibt es keine Arbeit und kein Auskommen für ihn, nur Armut und Elend. Nach Silvan, ins Dorf seiner Vorväter, führt kein Weg zurück, das hat sich ein staatstreuer Kurdenstamm geholt, der noch immer im Dienste des Staates unter Waffen steht und es nicht ohne Blutvergießen hergeben wird. Es scheint keinen Platz zu geben auf der Welt für Ali Bozkur.

Es ist dunkel geworden, als plötzlich Unruhe aufkommt. Überall werden Handys gezückt, wird aufgeregt telefoniert. Die Nachricht breitet sich aus: Mehmet Öcalan ist von einem weiteren Besuch auf der Gefängnisinsel zurückgekehrt, und er hat eine Botschaft vom Rebellenchef: Die Hungerstreiks, wünscht Abdullah Öcalan, sollen unverzüglich eingestellt werden.

Bozkur ist ein wenig enttäuscht, dass es nun auch vorbei sein wird mit der Mahnwache auf dem Spielplatz. Eine tiefe Sehnsucht habe er in seinem Herzen, sagt er, ein Heimweh nach einer Heimat, die es nicht gibt. Erlösen kann ihn nur einer, glaubt Ali Bozkur: „Wenn Öcalan freikommt, dann wird Kurdistan gegründet.“

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