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Politik: Die Lehre des Gasometers

Strukturwandel und kein Ende. Das Ruhrgebiet sieht sich in der „Vergeblichkeitsfalle“ – weil das Geld hinten und vorn nicht reicht. Da ist man schon mal geneigt, Solidarität aufzukündigen. Doch mehr Erfolg verspricht das eigene Bemühen, Phönix wieder fliegen zu lassen.

Burkhard Drescher erinnert sich genau. „Ich hatte die Abrissgenehmigung schon auf dem Tisch liegen und war kurz davor, sie zu unterschreiben“, erzählt er heute mit einigem Abstand und schmunzelt dann – warum, werden wir erst später erfahren. Seine Verwaltung hatte alle Papiere für den Abriss des alten Gasometers vorbereitet, Drescher fand deren Argumente überzeugend. „Ich wollte etwas Neues schaffen, das Alte musste weg“, lautete sein Motto, es entsprach dem Zeitgeist in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Drescher war Oberstadtdirektor, einer der jungen Wilden, und hatte große Pläne für Oberhausen. Wo einst Kohle gefördert und Stahl geschmolzen wurde, sollte jetzt die neue Mitte entstehen, ein Einkaufszentrum der Superlative, das seine Kunden sogar aus dem benachbarten Ausland anlockt. Der Gasometer störte.

Am Ende unterschrieb Drescher das Papier nicht. Heute weiß er, dass er sich richtig entschieden hat: „Das Centro hat 25 Millionen Besucher pro Jahr, der Gasometer daneben 450 000, das ist ein Ausstellungsort, wie Sie selbst hier im Revier kaum einen anderen finden.“ Neben der neuen Mitte hat sich der Gasometer zum Wahrzeichen der Stadt entwickelt, das den vielen Vorbeirauschenden auf der angrenzenden Autobahn 42 signalisiert: Hier in Oberhausen passiert etwas, wir geben uns nicht geschlagen, obwohl uns der Strukturwandel härter getroffen hat als alle anderen Städte im ebenfalls gebeutelten Ruhr-Revier. Selbst Christo hat sich 1999 von diesem Ort verzaubern lassen und im Inneren des Gasometers „The Wall“ inszeniert; nur eine von insgesamt elf Ausstellungen, die dem Ruf der Stadt gutgetan haben.

Bei diesem Thema offenbart Drescher dann, warum er zu Beginn des Gespräches schmunzeln musste: Nachdem er die Abrissgenehmigung in den Papierkorb geworfen hatte, brauchte die Stadt jemanden für die Geschäftsführung des Gasometers. „Ich wollte keinen Künstler, sondern eine Person mit wirtschaftlichem Verstand.“ Er fand eine junge Diplom-Ökonomin, die erstens dafür gesorgt hat, dass bisher kein Euro aus der Stadtkasse in das Projekt fließen musste und mit der er, zweitens, inzwischen verheiratet ist.

Dass Oberhausen den Strukturwandel mit dem Centro geschafft hat, würde Drescher nicht behaupten: „Aber es zeigt: Wenn der Impuls richtig gesetzt ist, kommt etwas.“ Die Zahlen und Strukturdaten der Stadt hat er bis heute auf Knopfdruck parat. „Wir haben damals innerhalb von zehn Jahren jeden zweiten Arbeitsplatz verloren, so dramatisch war das sonst nirgendwo.“ An dieser Stelle kommt Bernhard Elsemann ins Spiel. Noch bevor Drescher Oberstadtdirektor und später auch Oberbürgermeister wurde, lebte und arbeitete Elsemann in Oberhausen. Er ist so etwas wie der Herr der Zahlen, am Ende war er mehr als ein Jahrzehnt der Kämmerer, hat also die Stadtkasse verwaltet. „Ich erinnere mich noch genau, 1986 kam Heinz Schleußer zu mir und sagte: Langer, wir müssen etwas machen“, erzählt Elsemann. Der spätere Landesfinanzminister Heinz Schleußer war damals SPD-Fraktionschef in Oberhausen, die Stadt hatte zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Defizit. „Das waren 28 Millionen und wir mussten handeln“, berichtet Elsemann. Der dramatische Verlust an Arbeitsplätzen bei Kohle und Stahl in der Stadt der 1000 Feuer, wie Oberhausen sich damals selbst sah, zwang die politisch Verantwortlichen zu konsolidieren. „Wir sind inzwischen bei unserem 25. Konsolidierungsprogramm“, rechnet Elsemann heute vor und präsentiert dann lange Zahlenreihen, die vor allem eines zeigen: Egal, was die Stadt macht und wo sie kürzt, die Steuereinnahmen sinken stets schneller. „Wir haben es nur 1991 und 1992 geschafft, den Haushalt auszugleichen, sonst nie“, hält Elsemann fest, die Defizite summieren sich auf inzwischen über zwei Milliarden Euro und das trotz der vielen Konsolidierungsprogramme. „Das ist die Geschichte von Herrn Sisyphos“, bilanziert er trocken.

Bei der Ursachenforschung stößt man rasch auf einen Parteifreund der Sozialdemokraten Drescher, Schleußer und Elsemann. „Das war vor allem Hans Eichel, der hat uns zu Beginn des neuen Jahrtausends endgültig die Beine weggeschlagen“, urteilen Drescher und Elsemann fast wortgleich. Durch die Steuerreformen von Rot-Grün brach den Stadtvätern ihre letzte halbwegs verlässliche Einnahmequelle weg, die Gewerbesteuer. „Von dieser Reform haben wir uns nie erholt“, urteilt Elsemann und zeigt zweistellige Millionenverluste in seinen Kurven. Es war die Zeit, als die Sozialausgaben explodierten: „Die sind seit 1980 um 300 Prozent gestiegen, die Steuereinnahmen sind teilweise sogar rückläufig gewesen.“ Für Drescher ist längst klar, warum seine Nachfolger in Oberhausen und anderswo im Revier inzwischen Alarm schlagen und von einer „Vergeblichkeitsfalle“ sprechen: „Man hat keine Chance, eine Stadt zu sanieren, solange es so bleibt, wie es ist.“

Alle Oberbürgermeister im Revier sehen das inzwischen so, über die Parteigrenzen hinweg. Inzwischen gehören sie fast ausnahmslos wieder der SPD an, aber selbst mehr als zehnjährige Episoden unter CDU-Regentschaft wie in Duisburg und Essen haben nichts daran geändert, dass die Städte chronisch unterfinanziert sind und zum Beispiel die Solidarlasten für den Aufbau Ost überwiegend aus Krediten finanziert werden mussten. „Wir haben 900 Millionen Schulden, allein 300 Millionen mussten wir für den Aufbau Ost aufnehmen“, rechnet Frank Baranowski vor, das Gelsenkirchener Stadtoberhaupt. Sein Dortmunder Kollege, Ullrich Sierau, hält das System inzwischen für „pervers“, und der heutige Oberhausener Oberbürgermeister, Klaus Wehling, klagt: „Wir verschulden uns für den Ostbeitrag und sparen überall, müssen Bäder und soziale Einrichtungen schließen.“ Sie kämpfen mit aller Macht für neue Regeln. „Wer den Soli kritisiert, wurde immer als Feind der Einheit dargestellt. Darum geht es uns nicht. Wir wollen gleiche Lebensbedingungen“, verlangt Baranowski, der dann noch hinzufügt, dass dieses Thema nichts mit dem nordrhein-westfälischen Wahlkampf zu tun habe. Am Ende wollen sie nicht den Soli kippen, aber wenigstens bei der Förderung so bedacht werden wie der Osten. Fördern nach Bedarf, nicht nach Himmelsrichtung, lautet ihr Motto.

Immerhin haben es die Oberbürgermeister geschafft, auf Landesebene Verständnis zu wecken. Die rot-grüne Minderheitsregierung hat gemeinsam mit der FDP ein 350 Millionen Euro schweres Hilfspaket für besonders betroffene Gemeinden auf den Weg gebracht und damit einige Fehler der schwarz-gelben Vorgänger korrigiert, die den Kommunen je nach Schätzung bis zu drei Milliarden genommen haben. Das Landesverfassungsgericht hat den Gemeinden im Übrigen jetzt in einer mit Spannung erwarteten Entscheidung Recht gegeben: Die Verteilung der Ostlasten zwischen dem Land und den Kommunen muss neu verhandelt werden; der gegenwärtige – von Schwarz-Gelb eingeführte – Schlüssel benachteiligt nach Ansicht der hohen Richter die Städte und ist zulasten des Landes zu verändern. „Wir werden das gemeinsam angehen und eine Lösung finden“, verspricht Innenminister Ralf Jäger; nach der Wahl will man drangehen.

Dass mehr Mittel nötig sind, bestreitet niemand, der mit offenen Augen im Ruhrgebiet unterwegs ist. „Schauen Sie sich an, wo etwas gelungen ist, Sie haben praktisch immer einen staatlichen Impuls über Infrastruktur, der finanziert werden musste“, analysiert Burkhard Drescher, der die Entwicklung des Reviers seit mehr als 20 Jahren verfolgt. Nach seiner Zeit als Oberbürgermeister wechselte er ins Immobilienmanagement, zunächst bei der RAG, dann bei der inzwischen von einer Heuschrecke übernommenen Gagfah. Heute arbeitet er als Geschäftsführer für „Innovation City“ in Bottrop. Dieses Mal hilft er einem anderen Oberbürgermeister, Bernd Tischler, dabei, die Stadt neu zu erfinden. „Im Moment gibt es hier bei 120 000 Einwohnern noch 10 000 Kohle-Arbeitsplätze, die werden bis 2018 unweigerlich verschwinden, weil dann mit Kohle Schluss ist, da muss man jetzt etwas machen“, erklärt Drescher, der an diese Aufgabe mit ähnlichem Elan geht wie an die Neue Mitte in Oberhausen, die er vor mehr als 20 Jahren gegen heftige Widerstände nicht zuletzt aus dem Revier durchgeboxt hat. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied: „Der Staat fällt als Finanzier fast völlig aus, weil die Kassen leer sind.“ Drescher und seine Truppe müssen ihr Geld weitgehend am Markt verdienen. Sie haben immerhin den Initiativkreis Ruhr als Sponsor gewonnen, also den Zusammenschluss der wichtigsten Unternehmen der Region. „Wir haben 68 Mitgliedsunternehmen, die kommen auf einen Gesamtumsatz von 630 Milliarden und beschäftigen weltweit 2,25 Millionen Menschen“, präsentiert Bodo Hombach, der einstige Kanzleramtsminister und langjährige WAZ-Geschäftsführer, stolz die Zahlen des Bündnisses. Der Initiativkreis will den Phönix Ruhrgebiet wieder zum Fliegen bringen und deshalb fördert man unter anderem „Innovation City“.

Die Macher um Drescher wollen Bottrop in eine grüne Stadt verwandeln, also Häuser sanieren und auf Niedrig-Energie-Standards trimmen, Betriebe dazu bringen, ihre Emissionen zu senken und dann auch noch den Verkehr völlig neu erfinden. „Das ist die Blaupause für den totalen Imagewandel“, schwärmt Drescher, der sich und seine Truppe in einer Mittlerfunktion zwischen öffentlicher Hand, privaten Investoren und Betrieben sieht: „Das geht nur vernetzt und das ist das Neue an unserem Projekt, das zur Zeit aus 100 Einzelprojekten besteht, die alle dem Ziel dienen, Bottrop zu verändern.“ Am Ende soll der Energieverbrauch in der Stadt schon in zehn Jahren halbiert werden, Drescher hält das für möglich.

Sein Optimismus speist sich aus langen Erfahrungen im Revier. Nicht zuletzt in seiner eigenen Vergangenheit hat er das eine oder andere gescheiterte Projekt zu verantworten; mit einigem Abstand kann er analysieren, wann etwas nicht gelungen ist. „Immer, wenn man ohne Plan und ohne Vernetzung gearbeitet hat, reichte am Ende auch noch so viel Fördergeld nicht“, gibt er zu. In Oberhausen hatte etwa Wolfgang Clement vor der Jahrtausendwende die Idee, ein Zentrum für hochauflösende Fernsehproduktion zu etablieren; am Ende waren gut 100 Millionen versenkt. „Das hätte ich wissen müssen, so etwas funktioniert nicht in Oberhausen, außerdem war das zu früh“, weiß Drescher heute, der sich damals nur kurz über die vielen Fördergelder gefreut hat.

Für ihn gibt es eine klare Reihenfolge. Nur wenn staatliche Infrastrukturmaßnahmen am Ende wirklich privates Kapital anlocken, ist Politik erfolgreich: „Schauen Sie in den Duisburger Innenhafen, sehen Sie sich das Centro in Oberhausen an, Zeche Zollverein in Essen und vor allem die Ansiedlungen rings um die Universitäten in Bochum und Dortmund, überall dort wächst inzwischen Neues heran.“ Im Duisburger Innenhafen haben sich inzwischen etliche Firmen wie Alltours oder Hitachi angesiedelt, es sind tausende neue Arbeitsplätze entstanden. Im Oberhausener Centro finden mehr als 12 000 Menschen Beschäftigung, und im Essener Krupp-Gürtel wächst auf dem Gelände der alten Hallen die neue Firmenzentrale von Thyssen/Krupp mit ihren 3500 Beschäftigten. „Das dauert allerdings fast immer 20 Jahre“, hat Drescher beobachtet, Strukturwandel ist ein langwieriges Geschäft.

Außerdem braucht man zu Beginn den richtigen Impuls. „Vieles von dem, was heute erfolgreich ist, stammt aus der Zeit der internationalen Bauausstellung“, sagt Drescher. Die IBA war für zehn Jahre zwischen 1989 und 1999 angelegt, sie hat das Ruhrrevier nachhaltig verändert. Damals hatte die Landesregierung nicht nur die Idee, sondern auch das Geld, ein solches Projekt zu initiieren. Aus dem Staatssäckel flossen 1,5 Milliarden, private Investoren gaben noch einmal rund eine Milliarde. „Außerdem haben damals alle zusammengearbeitet, im Rahmen eines Masterplanes“, fügt Drescher hinzu, danach hat es das nur noch beim Jahr der Kulturhauptstadt gegeben. „Davon wünschte ich mir mehr“, sagt Drescher, „gelegentlich ist dem einen oder anderen der Kirchturm wichtiger als die Zusammenarbeit.“

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