zum Hauptinhalt
Viele junge Männer kommen mit Mopeds und Motorrädern zu den Demonstrationen.

© Mohamed Azakir/Reuters

Libanons Lira im freien Fall: Zur Wut gegen die Eliten kommt die pure Verzweiflung

Monatseinkommen unter 200 US-Dollar sind keine Seltenheit, auf Beiruts Straße protestieren eigentlich verfeindete Lager gemeinsam, die Stimmung ist explosiv.  

Hunderte junge, meist schwarz gekleidete Männer auf Mopeds waren auf Beiruts Straßen seit Oktober vergangenen Jahres immer ein Zeichen von Gefahr. Spätestens, wenn sich die Moped-Kolonnen ihren Weg von den Vorstädten in das Zentrum der libanesischen Hauptstadt bahnten, konnte man davon ausgehen, dass die jungen Erwachsenen auf der Suche nach Gewalt sind. 

Mit der ausgestreckten Faust steht diese Demonstrantin neben Trümmern.
Mit der ausgestreckten Faust steht diese Demonstrantin neben Trümmern.

© Anwar Amro/AFP

Dutzende Male wurden friedlich Demonstrierende in der Innenstadt von Beirut von brutalen Schlägern der schiitischen Parteien Hisbollah und Amal attackiert. Auch die Sicherheitskräfte wurden immer wieder Ziel von Attacken durch die Moped-Gangs. Teilweise lieferten sich Unterstützer der beiden schiitischen Parteien stundenlange Straßenschlachten mit Polizei und Militär.

In der Nacht zu Freitag war es anders. Erstmals seit dem Beginn der Massenproteste, die sich gegen Korruption, die desolate wirtschaftliche Lage und das  politische System des konfessionellen Proporz richten, kamen die Mopeds nicht um Chaos zu verbreiten, sondern um sich den Protesten anzuschließen. 

Unter Sprechchören wie “Wir kommen aus Dahiyeh, Beirut heiß uns willkommen!” sollen die zumeist jungen Männer im Laufe des Abends zu den Demonstrationen vorgestoßen sein

Der im südlichen Beirut gelegene, schiitisch geprägte Vorort Dahiyeh gilt als Hochburg der Hisbollah-Bewegung, die im Libanon nicht nur als Miliz, sondern auch als politisch anerkannte Partei agiert. 

Empfangen wurden die Hisbollah- und Amal-Sympathisanten von tausenden Protestierenden mit Parolen, die an die ersten Nächte der Auflehnung im Oktober 2019 erinnerten. Slogans wie “Shia, Sunni, Fuck sectaranism”, drücken die Überwindung der durch den blutigen Bürgerkrieg  tief verwurzelten religiösen Spaltung im Land aus.

Die Lira ist direkt an den US-Dollar gekoppelt

Anlass für die überraschende Allianz ist die Verzweiflung vieler Libanesen und Libanesinnen über die verheerende ökonomische Situation des Landes. Premierminister Hassan Diab war im Dezember mit dem Versprechen angetreten, die Talfahrt der libanesischen Wirtschaft zu bremsen. Eingetreten ist bisher das Gegenteil. Die einheimische Währung Lira büßt täglich an Wert ein, beobachtet wird ein Verlust von mehr als 70 Prozent im Vergleich zum Oktober 2019.
Die Lira ist direkt an den US-Dollar gekoppelt, im Zedernstaat wird der amerikanische Dollar als Parallelwährung seit Jahrzehnten akzeptiert.

Der offizielle Wechselkurs verspricht für einen US-Dollar, ungefähr 1500 Lira. Soweit die Theorie. In der Realität überstieg der Wert eines Dollars im Verlauf des Donnerstags auf dem Schwarzmarkt erstmals die 5000 LL-Marke. Einfache Konsumgüter werden so zur Luxusware. Monatseinkommen unter 200 USD sind keine Seltenheit mehr.
Groß angekündigt wurde von der Regierung ein unabhängiges korruptionsbekämpfendes Gremium, bestehend aus Technokraten.  Am Mittwoch wurde die Kommission vorgestellt. 20 Personen, allesamt politisch verbunden mit den Mächtigen des Landes. Einige von ihnen sind ohne jegliche wirtschaftliche Expertise.

Die Wut über die Eliten mischt sich mit purer Verzweifelung

Zu Beginn der libanesischen Massenproteste im letzten Jahr brach sich auf den Straßen vor allem die Wut über die Elite bahn. Mittlerweile mischt sich das Gefühl der Wut bei vielen mit einem Gefühl der puren Verzweiflung. Tausende zieht es am Donnerstagabend auf die Straßen des Landes. Auch in den südlichen Hisbollah-Hochburgen Tyros und Nabatiye kommt es zum ersten Mal seit längerem zu regierungskritischen Protestmärschen.

Im nördlichen Tripoli setzen Protestierende die Filiale der Zentralbank in Brand. Allein in Libanons zweitgrößter Metropole werden bei Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften nach Angaben des Libanesischen Roten Kreuzes 41 Menschen verletzt. Auch in Beirut kommt es im Verlauf der Nacht zu Ausschreitungen. Eine Bankfiliale geht in Flammen auf, Straßen werden blockiert und die Bereitschaftspolizei reagiert mit Tränengas-Salven auf schweren Stein-Beschuss.

Soldaten hocken in der Nacht zu Freitag mit ihrer Ausrüstung vor einer Mauer.
Soldaten hocken in der Nacht zu Freitag mit ihrer Ausrüstung vor einer Mauer.

© Anwar Amro/AFP

Als Demonstrierende am Rande des zentralen Riad al-Solh-Platzes im Regierungsviertel der Hauptstadt mehre große Feuer legen, wird lange nicht eingegriffen. Am Freitagmorgen erklärt der Zivilschutz, dem auch die Feuerwehr unterstellt ist, dem libanesischen Fernsehsender LBCI gegenüber, dass ihren Löschfahrzeugen der Diesel ausgegangen ist.

Eine regierungskritische Demonstrantin klatscht neben einem Feuer in die Hände.
Eine regierungskritische Demonstrantin klatscht neben einem Feuer in die Hände.

© Hussein Malla/dpa

Der arabische Nachrichtensender Al Jazeera zitiert wütende Polizisten in der Protestnacht sinngemäß mit den Worten “Wieso greift ihr Geschäfte und Sicherheitskräfte an? Zerstört lieber die Mauer um den Regierungssitz oder besucht die Häuser der Politiker”.

Die angesprochenen Politiker, um Premierminister Diab, haben für den Freitag eine Sondersitzung des Kabinetts einberufen, in der die finanzielle Situation des Mittelmeerstaates erneut diskutiert werden soll. Derweil steigt der Schwarzmarktpreis der Währung am Freitagmittag auf 5300 Lira für einen US-Dollar. Ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht. Der Libanon taumelt weiter abwärts. 

Julius Geiler

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false