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Der Ostermarsch 2014 in Berlin

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Die Linke und der Fall Kobane: Ist der Pazifismus gescheitert?

Selbst bei der Linken rücken inzwischen viele vom kategorischen Pazifismus ab. Als geistige Strömung könnte er verschwinden. Doch die Kobane-Frage ist nicht nur eine Richtungsentscheidung – es geht auch um einen Mangel an Mitgefühl. Ein Essay.

Ein Essay von Kai Müller

Sie hat ihre Forderung mit Filzstiften auf rosa Karton gekritzelt. Große Buchstaben, hastig hingeworfen, in drei Farben. „SOLIDARITÄT mit dem Widerstand in Kobane!“, steht da und darunter: „US- Bombardement stoppen!“ Christine Buchholz hält ihre Friedensbotschaft vor die Brust, lässt sich fotografieren und verbreitet dies über Facebook und Twitter. Ein bisschen sieht sie wie eine Geisel aus.

Häme und Fassungslosigkeit sind die Reaktion. Ob ihr der „Widerspruch in sich“ nicht aufgefallen sei, wird sie gefragt. Dass die Amerikaner helfen, sie selbst das aber schlimmer findet, als dass gar nichts unternommen werde für Kobane.

Dabei wollte Buchholz, Bundestagsabgeordnete und friedenspolitische Sprecherin der Linken, nur ihr Weltbild retten. Gut und Böse säuberlich getrennt und sie selbst auf der richtigen, der Seite der Kriegsopfer. Es war eine menschliche Geste, der Rest ging kaputt. Es sieht so aus, als könne die Linkspartei nicht mehr verständlich machen, worum es ihr geht. Und die große Mehrheit der Deutschen will noch immer keinen Krieg. Was ist also falsch daran, ein Pazifist zu sein?

100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs klingt die Frage neurotisch. Als wäre der Weg von der nationalen Kriegsbegeisterung des August 1914, über den Russlandfeldzug 1941, die Salt-II- Beschlüsse 1982 und den Kosovo-Krieg 1999 für dieses Land nicht lehrreich genug gewesen, um die Antwort zu kennen. Die Linke war bislang besonders stolz auf die ihrige. „Nie wieder Krieg“, lautete sie in den Worten Karl Liebknechts.

Doch sind die Konflikte von 2014 nicht mehr mit Verdun erklärbar. In den Reihen der Linken rücken deshalb immer mehr vom kategorischen Pazifismus ab. Fraktionschef Gregor Gysi hatte Anfang September gesagt, man müsse die vom „Islamischen Staat“ bedrohten Kurden unterstützen. Wörtlich meinte er: „Da Deutschland ein wichtiger Waffenlieferant ist, könnte in diesem Ausnahmefall ein Waffenexport dorthin dann statthaft sein, wenn andere Länder dazu nicht unverzüglich in der Lage sind.“ Was nichts anderes ist als zu sagen: Wir haben’s ja, lassen wir die Armen an unserem Reichtum teilhaben, unserem Überfluss an Waffen. „In dieser Notsituation ist das erforderlich, um größeres Unheil zu verhindern.“

Vielleicht war das in diesem Moment einfach nur unbedarft, vielleicht war es ein Test. Mit der Zuspitzung der Lage in Kobane geht ein Teil der Linken jetzt immerhin so weit, Militäreinsätze der UN zu fordern. Zwar wisse niemand, sagte Fraktionsvize Dietmar Bartsch vor seinen Kollegen, wie der IS wirksam zu bekämpfen sei. Aber: „Wir müssen auch befördern, dass gehandelt wird.“

Das ist eine Wende. Im Parteiprogramm werden UN-Einsätze verteufelt. So erfolgt die Kurskorrektur gegen den vehementen Widerstand von Oskar Lafontaine und anderen Teilen der Partei, die darin einen „Verrat“ der friedenspolitischen Grundsätze sehen. Die Linke habe „die bessere Antwort“, schrieb der frühere Parteivorsitzende im Tagesspiegel, indem sie Ärzte und Krankenschwestern, Nahrung und Medikamente in Kriegsgebiete schicke.

Warum gerät die Partei ausgerechnet jetzt darüber in Streit, wie sie sich ihren Pazifismus erhalten kann? Den Reformern wird vorgeworfen, lediglich auf ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis zusteuern zu wollen. Doch was hat Kobane, eine kleine kurdische Stadt an der Grenze zur Türkei mit etwa 50000 Einwohnern, was Timbuktu nicht hatte? Oder Misrata? Oder Srebrenica?

Die Auseinandersetzung wird um die letzte mögliche Art ausgetragen, sich dem Krieg als politische Notwendigkeit zu versagen. Sollte die Linke ihre stoisch-antimilitaristische Haltung aufgeben, dann war es das mit dem Pazifismus in diesem Land. Dann gibt es ihn als geistige Strömung nicht mehr – abgesehen von Einzelstimmen wie Antje Vollmer („Nein, es fehlt nicht an Beweisen für die politische Qualität des Pazifismus, es fehlt an Politikern, die aus der Blütezeit gewaltfreier Konfliktlösungen Konsequenzen für heute ziehen“). Vor allem wäre ihm die institutionelle Bindung an Gremien abhanden gekommen, von denen die Macht zur Entsendung von Soldaten und militärischem Gerät ausgeht. Welchen Einfluss hätte er dann noch?

Nun war der Effekt des Pazifismus auf politische Entscheidungen stets geringer als das kulturelle Echo. Bertha von Suttner, die Ende des 19. Jahrhunderts die Gefahr eines industriellen Krieges heraufziehen sah, war eine Spottgestalt ihrer Zeit. Als böhmische Adelstochter hatte sie ihre Mutter das familiäre Vermögen am Spieltisch verschleudern sehen, verdingte sich als Bürokraft bei Dynamit-Erfinder Alfred Nobel und wandte sich 1883 mehr oder weniger aus Langeweile ihrem Lebensthema zu. Mit Blick auf die Militarisierung der europäischen Großmächte schrieb sie: „Das Bekämpfen der Elemente, welche uns oft feindlich gegenübertreten, das Bekämpfen der Krankheiten und des Elends fordert auch seine Helden.“

In der Logik der Abschreckung konnte jeder Schritt einer zuviel sein

Der Ostermarsch 2014 in Berlin
Der Ostermarsch 2014 in Berlin

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Damit war der Ton gesetzt. Während ihre Mitmenschen im imperialen Rausch schwelgten, plädierte von Suttner für eine innere, seelische Abrüstung. Erst später entwickelte sie daraus die Überzeugung, dass Rechtsverhältnisse zwischen Staaten ebenso möglich sein müssten wie zwischen Individuen. Als Stefan Zweig 1917 eine Rede auf die da bereits Verstorbene hielt, tobte noch immer der große Krieg. Zweig kam auf die „fast vernichtende Tragik des Pazifismus“ zu sprechen, „dass er nie zeitgemäß erscheint, im Frieden überflüssig, im Krieg wahnwitzig, im Frieden kraftlos, in der Kriegszeit hilflos“. So ist es bis heute geblieben. Pazifismus ist unmöglich. Und er macht sich unmöglich.

Der Anarchist Ernst Friedrich sah darin eine Tugend. Als er 1924 sein Buch „Krieg dem Kriege“ veröffentlichte, wollte er den Skandal. Es zeigte die verstümmelten Körper und zerrissenen Gesichter der vom Schlachtfeld Heimgekehrten. Das Entsetzen war groß, auch über diesen Demagogen des Friedens. Sein Schock-Pazifismus war die Antwort auf Zweigs ernüchterte Feststellung, dass der Friedfertige immer töricht wirkt. Wenn die Folgen des Krieges zu schlimm sind, um noch irgendwas mit ihm zu rechtfertigen, ist er gewissermaßen seine eigene Abschreckung.

Ein zivilisatorischer Imperativ, der auf Kant zurückgeht

Aber erst in den 80er Jahren bekam das Konzept eines negativen Gewaltverzichts Aufwind. Die Wehrdienstverweigerung kletterte auf ein Rekordhoch. Dabei war die Ethik der Unterlassung vor allem Ausdruck der Paralyse. In der Logik der Abschreckung konnte jeder Schritt in die Gewalt einer zu viel sein. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist der Passivitätsdruck jedoch zerfallen. Man kann den Krieg nicht mehr mit dem Krieg für unmöglich erklären. Stattdessen heißt es jetzt: „Man kann doch da nicht tatenlos zusehen.“ Nicht zusehen, wenn 1991 in Mogadischu ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Milizen ausbricht und 14000 Menschen in einer der ärmsten Regionen der Welt umkommen. Nicht zusehen, wenn Regierungstruppen im Norden Malis Anfang 2012 von Tuareg-Rebellen angegriffen und zurückgedrängt werden, diese ihre Gebiete an islamistische Terrorgruppen verlieren und 230000 Menschen vor deren Fanatismus fliehen. Oder wenn wie in diesem Sommer zehntausende Kurden, Jesiden und Christen vor dem Söldnerheer des „Islamischen Staats“ (IS) auf einem einsamen Gebirgsrücken Zuflucht suchen, abgeschnitten von Wasser und Nahrung, und ihrer Abschlachtung harrend.

Dass man solche Völkermorde nicht geschehen lassen dürfe, ist ein zivilisatorischer Imperativ. Er geht auf Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ zurück. Darin wird als Ausweis der über den Naturzustand hinausgelangten Menschheit deren Fähigkeit betrachtet, Frieden „zu stiften“. Der Philosoph hielt das für unumgänglich, da es die Natur selbst sei, die „durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen“ lasse. Aber ein bisschen was dafür tun müsste die Menschheit natürlich auch.

„Bellizistischer Humanismus“ ist das verächtliche Schlagwort dafür. Vor allem für die Linken ist es ein verächtlicher Begriff. Humanismus ist ihnen keine verlässliche Größe. Und verlässlich ist er in der Tat nicht. Zu oft werden militärische Aktionen mit der Verletzung der Menschenrechte begründet, zu oft wird im Wissen um die Missachtung dieser Grundrechte nichts unternommen.

So in Ruanda geschehen, als unter den Augen belgischer Blauhelmsoldaten ein Genozid verübt wurde, ohne dass die UN eingegriffen oder vor 1994 bemerkt hätte, dass er jahrelang vorbereitet worden war. Die Amerikaner spielten den Massenmord im Sicherheitsrat als „Chaos“ herunter, obwohl sie es besser wussten. „Don’t cross the Mogadishu Line“, lautete die Devise der Clinton-Regierung nach den frustrierenden Erfahrungen, die sie ein Jahr zuvor mit ihrer humanitären Mission in Somalia gemacht hatte. Damals waren 18 US-Marines ums Leben gekommen und ihre Leichen von einem aufgeputschten Mob durch die Straßen geschleift worden. Bloß nicht erneut Kriegspartei werden, das hatte oberste Priorität, und in Ruanda starben in hundert Tagen eine Million Menschen.

Die Grünen mussten 1999 eine gute Erklärung dafür finden, dass deutsche Soldaten wieder in einen Krieg zogen

Als sich 1999 im Kosovo ein Völkermord abzeichnete, waren es abermals historische Lehren, in diesem Fall die Angst vor einem neuen Massaker wie in Srebrenica, die die Nato zum Eingreifen bewegten. Das stellte die Grünen vor eine Zerreißprobe. Sie waren Regierungspartei. Ein Nein zu den Nato-Bombardements hätte die Partei nicht überstanden. Nun musste sie eine gute Erklärung dafür finden, dass deutsche Soldaten nach 1945 erstmals wieder in einem Krieg eingesetzt wurden.

Joschka Fischer hatte die militärische Schwäche der Bundesrepublik als folgerichtige Reaktion auf Hitlers Angriffskriege bis dahin für richtig gehalten. Doch unter dem Einfluss von Daniel Cohn-Bendit sagte er im April 1999: „Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.“ Er löste sich damit von der alten Gewissheit der Friedensbewegung, nach der Auschwitz und Krieg auf dasselbe hinausliefen. Die Ambivalenz der historischen Erfahrung war dabei untergegangen. Das hatte Heiner Geißler den Strickpullover-Linken vorgehalten, als er 1983 in einer Bundestagsdebatte meinte, der Pazifismus der 30er Jahre habe „Auschwitz erst möglich gemacht“.

Die Linke ist blind für die Dynamik ethnischer, religiöser Zerfallskonflikte

Der Ostermarsch 2014 in Berlin
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Der Satz war ein Eklat gewesen. Er hatte nicht gestimmt. Und er hatte darüber hinaus einem klugen Militarismusgegner wie Carl von Ossietzky, der 1929 den heimlichen Wiederaufbau der Luftwaffe aufgedeckt hatte, selbst die Schuld daran gegeben, später im KZ umgebracht worden zu sein. Doch Geißlers Polemik hatte durchaus ihren Sinn als Reflex auf die vom Pazifismus unbeantwortete Frage, wie Regime vom Zerstörungsformat des Nationalsozialismus gestoppt werden könnten. Auschwitz wurde ja von Soldaten befreit.

Fischer wollte als Architekt der rot-grünen Regierung ein neues Auschwitz im Kosovo stoppen. Indem er eine „Nie-wieder“-Lehre des Zweiten Weltkriegs gegen die andere aufwog, fanden die Grünen zur interventionistischen Friedenspolitik. In ihrem Menschenrechtsfuror fordert die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nun sogar eine Bundeswehr-Beteiligung an einem UN-Militäreinsatz gegen IS.

Eine Partei ist nicht unbedingt pazifistisch gestimmt, in der sich ehemalige Volksarmee-Soldaten befinden

An dem Punkt, an dem die Grünen vor 15 Jahren standen, seien die Linken nicht, heißt es aus deren Reformerlager. Doch eine relevante Gruppe um Dietmar Bartsch und Stefan Liebich treibt die Neuausrichtung auch hier voran. Zwar ist eine Partei nicht unbedingt pazifistisch gestimmt, in der sich ehemalige Volksarmee-Soldaten befinden. Das Linken-Parteiprogramm verordnet Deutschland allerdings eine strikt anti-militärische Sonderrolle. Nicht einmal an UN-Einsätzen soll die Bundeswehr sich beteiligen dürfen. Wobei Gysi den Hinweis in den Leitlinien untergebracht hat, dass die UN „noch nie chartagemäß Beschlüsse gegen Aggressoren wie die Nato im Jugoslawienkrieg und die USA im Irakkrieg gefasst hat“. Das bedeutet auch, dass die Linke mitziehen, sogar deutsche Beteiligungen nicht ausschließen würde, wenn sich die Praxis des Sicherheitsrats änderte.

In den UN als Institution des Völkerrechts sieht die Linke das einzige legitime Gewaltmonopol. Aber ihr ist schwer gefallen, selbst dieses anzuerkennen. So stürzte über die Frage des UN-Mandats schon mal die Parteiführung. Ein Jahr nach dem Richtungswechsel der Grünen kam es für die PDS auf einem Parteitag in Münster zu einem ähnlichen Showdown. Der Vorstand um Gysi und Lothar Bisky stellte den Antrag, militärische Einsätze der UN nicht prinzipiell abzulehnen. Zwei Drittel der Delegierten stimmten dagegen. Gysi war außer sich, legte den Fraktionsvorsitz nieder. Dass er ein Jahr darauf nochmals forderte, das erste Menschenrecht sei „das Recht auf Leben“, verhallte ungehört.

Selbst linke Kritiker werfen der Partei ihren „geborgten Pazifismus“ vor. Da sie glaubt, dass der Krieg vom Kapitalismus gewollt ist, dass sich im Krieg die Profitgier der Militärmächte befriedigt, ist ihr die Reform der Weltwirtschaft wichtiger als jede Friedensmission. Für die Dynamik ethnischer, religiöser Zerfallskonflikte, in denen die Zivilbevölkerung systematisch attackiert wird, bleibt sie blind.

Dafür hat Oskar Lafontaine nun neuerlich ein Beispiel geliefert, als er vor einer Einbindung in die verbrecherische US-Außenpolitik warnte. Sein von dem französischen Sozialisten Jean Jaurès entliehenes Wort, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trage wie die Wolke den Regen, meißelt die alte Ideologie eines von Karl Liebknecht begründeten systemischen Pazifismus noch einmal in Stein. Das Problem Lafontaines und seiner Begründung ist nur: der Mangel an Mitgefühl.

Sich überhaupt zuständig zu fühlen, kann sich nur ein starkes Gemeinwesen leisten

Was nützt den Menschen in Kobane ein Willy-Brandt-Corps für Katastrophenhilfe? Wer sollte ihm, falls es so etwas je geben würde, Geleitschutz geben? Und wäre das nicht sowieso widersinnig? In dem Bestreben, sich gegen den Wankelmut des Humanismus immun zu machen, redet sich die pazifistische Linke Institutionen stark, die notorisch schwach sind. Demgegenüber hat sie den kurdischen Autonomiebestrebungen stets Sympathie entgegengebracht. Etliche kurdischstämmige Linken-Politiker dürften das Ende der Nichteinmischung befürworten. Es ist der Sprung in die Empathie, der die Kobane-Frage nicht nur für die Linke zur Richtungsentscheidung macht.

Dabei geht es um mehr als sentimentale Bindungen. Die asymmetrischen Kriege der Gegenwart entstehen an den Bruchstellen unterschiedlich weit fortgeschrittener Kulturentwicklungen. Die Ungleichzeitigkeit, mit der Gewalt in der Welt als Machtmittel geächtet wird, führt unweigerlich zu Dominanzbeziehungen, auf die die Schwachen mit Terror reagieren. Das Gefälle durch eine freiwillige Selbstentwaffnung der Starken, wie es der Linken vorschwebt, wieder aufheben zu wollen, verkennt allerdings das Problem. Sich überhaupt zuständig zu fühlen, kann sich nur ein starkes Gemeinwesen leisten. Es kann Krieg falsch finden, nicht aber, Menschenrechte durchzusetzen.

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