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Politik: „Die Menschen vertrauen der Marktwirtschaft nicht mehr“

Unionsfraktionsvize Friedrich Merz über die Sinnkrise der Politik, den Unterschied zwischen Kooperation und großer Koalition – und den Tod von Jürgen Möllemann

Herr Merz, der offenkundige Freitod von Jürgen Möllemann – irritiert das einen Politiker wie Sie im Blick auf Ihr eigenes Leben?

Das war ein Schock für uns alle. Aber wir sind alle auch nur auf Zeit auf dieser Welt. Ich empfinde vor allem großes Mitgefühl für die Familie. Ich weiß, was wir Politiker unseren Familien schon im „normalen“ politischen Leben zumuten. Und das Leben von Jürgen Möllemann war ja schon kein „normales“ politisches Leben gewesen. Wenn es dann so endet, ist es einfach tragisch, und es mahnt uns alle auch ein wenig, die Dinge mit Maß zu tun.

Manche sagen, dies sei ein übersteigerter, aber doch auch wieder typischer Fall für den Raubbau, den das im Wortsinn öffentliche Leben an einem Politiker treibt.

Ja, darin steckt auch eine Lehre für uns alle. Man muss aufpassen, dass man sich von politischen Ämtern, vom politischen Ehrgeiz nicht völlig auffressen lässt. Auch dieses Spiel mit den Medien – sie sind Teil des Spiels, wir sind Teil des Spiels, aber es muss Grenzen geben. Ich ziehe die Grenze relativ eng. Möllemann hat sie praktisch überhaupt nicht gezogen, bis zum Schluss.

Hätten Sie das vorher für möglich gehalten?

Es sagen viele Kollegen, das hätten sie sich nicht vorstellen können. Ich bin, wie alle anderen auch, schockiert gewesen. Aber ich habe den Gedanken nicht für völlig abwegig gehalten, dass er diesen letzten Schritt tut. Er hat sich offenbar in Dinge verstrickt, deren Ausmaß wir nur ahnen können. Dieser Jürgen Möllemann ist in jeder Hinsicht ein extremer Mensch gewesen, den ich persönlich auch gemocht habe. Gleichzeitig war bei ihm immer ein hohes Maß an Unkalkulierbarkeit dabei.

Zurück zum Alltag. Wenn bei Ihnen zu Hause was kaputt ist – reparieren Sie das selbst?

Kleinere Dinge, auch größere – ja klar.

Aber so richtig schwere Brocken …

Nein, die normalerweise nicht.

Dann müssen Sie also einen Handwerker rufen. Findet die sonst so reformfreudige Union deshalb den Meisterzwang so toll?

Allein das Wort „Zwang“ führt uns schon auf die falsche Spur. Kommt irgendeiner von uns auf die Idee, bei Juristen, bei Lehrern, bei anderen Menschen mit qualifizierter Ausbildung von „Examenszwang“ zu reden?

Okay, grober Klotz auf groben Keil. Aber im Ernst: Niemand will doch den Handwerkern die Ausbildung wegnehmen.

Aber wir können nicht über Ausbildung und Qualifikation debattieren und gleichzeitig sagen, in diesem Bereich verzichten wir auf einen beträchtlichen Teil der Ausbildung. Wir sägen sonst den Ast ab, auf dem auch die sitzen, die ausgebildet werden sollen.

Wieso?

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Wenn wir künftig selbstständige Friseure ohne Meisterbrief zulassen, wird im Friseurhandwerk nicht mehr ausgebildet. Da sind aber zur Zeit 45 000 junge Leute in Ausbildung.

Aber muss sich die Union nicht sagen lassen: Handwerk, das ist eure Klientel, da werdet ihr ganz kleinteilig und spitzfindig, und bei allem, was nicht eurer Kernwählerschaft weh tut, da seid ihr ganz großzügig im Streichen.

Dieser Eindruck konnte leider entstehen. Wir haben aber einen sehr ausführlichen Vorschlag für eine weit reichende Reform der Handwerksordnung gemacht. Leider ist es uns nicht gelungen, diese Vorschläge als die bessere Reform zu vermitteln. Unsere Kommunikationsstrategie war auf Ablehnung einer Reform ausgerichtet und nicht auf eine eigene, bessere. Das war ein Fehler, ich bin da ein Stück mit für verantwortlich. Trotzdem liegen wir in der Sache richtig.

Wie wollen Sie denn verhindern, dass Ihnen solche Pannen ab jetzt ständig passieren? Die Regierung unternimmt den Anlauf zu Reformen, die Union will bei einigen Vorhaben mitmachen, andere ablehnen – das kapiert doch am Ende kein Mensch mehr.

Diese Strategie wird nur vermittelbar, wenn wir selbst ein geschlossenes Reformwerk anbieten. Wir sind da auf der Zeitachse vielleicht ein bisschen zurück, aber das ist kein grundsätzliches Problem. Wir werden in der HerzogKommission bald zu Ergebnissen kommen. Wir sind schon relativ weit und werden jetzt zusätzlich Gas geben. Und wir dürfen uns zugleich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Aus Überzeugung Nein zu sagen ist keine Blockade.

Sie haben die Herzog-Kommission erwähnt, die die CDU unter Leitung des Altbundespräsidenten einberufen hat. Was soll denn da im Herbst rauskommen?

Die Herzog-Kommission wird Vorschläge zur Reform der sozialen Sicherungssysteme machen. Wir werden keine Gesetze formulieren. Aber wir werden die Reformen konzipieren, die aus unserer Sicht notwendig sind, um die Sozialsysteme für die nächsten 20, 30 Jahre zukunftsfest zu machen.

Eine Vision oder ein konkretes Programm?

Das muss kein Widerspruch sein. Ich mag den Begriff „Vision“ nicht so sehr. Eine Vision ist ja nur eine Zielbeschreibung. Aber wir müssen schon das Ziel und zugleich den Weg dorthin beschreiben. Insofern geht es mehr um ein Programm. Aber es muss eines werden, das auch den unangenehmen Teil der Wahrheit nicht ausspart. Die Menschen wissen, dass es so nicht weitergehen kann.

Theoretisch sagt und weiß das jeder; wenn es konkret wird, kneifen die meisten.

Aber wenn wir nicht offen reden, werden wir alle ein noch viel größeres Problem bekommen. Ich denke da noch einmal an Möllemann. Vorigen Sonntag bei „Sabine Christiansen“ im Studio hat er den meisten Beifall bekommen, als er gesagt hat, die etablierten Parteien hätten die Probleme nicht gelöst. Wir haben heute schon eine Sinn- und Akzeptanzkrise der Marktwirtschaft. Die Menschen vertrauen dieser Ordnung nicht mehr. Wenn wir das nicht ändern, dann werden wir eine Sinn- und Akzeptanzkrise unserer gesamten politischen Ordnung bekommen, unseres ganzen föderalen Staatsaufbaus.

Wird diese Akzeptanzkrise nicht genau dadurch befördert, dass alle von Reformen reden, aber am Ende aus Angst, sich unbeliebt zu machen, keiner sie konsequent durchzieht?

Es kann gut sein, dass wir die Reformdebatte zum falschen Zeitpunkt führen. Hätten wir vor fünf Jahren begonnen, hätten wir aus der Substanz heraus die Reformen leisten können. Heute ist die Substanz verzehrt. Aber das Problembewusstsein ist nicht im gleichen Maß gewachsen. Man könnte die These vertreten: Wir müssen noch drei, vier Jahre warten, bis uns das Wasser nicht nur bis zum Hals steht, sondern noch drei Zentimeter höher.

Aber jeder kennt den Wasserstand!

Nein, leider nicht. Die Wohlstandsverluste sind ja noch nicht überall konkret spürbar. Das wird erst in Randbereichen deutlich. Ein Beispiel: Der Vater eines Mitarbeiters hat einen leichten Schlaganfall gehabt. Er war in der Klinik und müsste jetzt in eine Rehabilitation. Er ist aber gesetzlich krankenversichert und findet keinen Reha-Platz in der näheren Umgebung. Das wäre vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen. Wäre der Mann privat versichert, könnte er sich vor Angeboten nicht retten. Wir sind mittendrin in der Zwei-Klassen-Medizin.

Und da sagen Sie, den Leuten fehlt immer noch das Problembewusstsein?

Das Fundament wird brüchiger, auf dem wir stehen, aber es bricht noch nicht völlig weg. Wir leben in einem Schwebezustand. Auf der einen Seite Angst vor Einbußen, vor dem Verlust der Arbeit, auf der anderen Seite immer noch eine erhoffte Sicherheit, die den Blick auf die Realität trübt. Menschen wie Sie und ich, die sich jeden Tag mit diesen Fragen beschäftigen, die wissen seit Jahren, was los ist. Aber die 70 Prozent der Menschen, die vielleicht vier, fünf Minuten am Tag die Nachrichten konsumieren, die wissen es in der Regel nicht, weil ihnen die immer komplexeren Grundzusammenhänge nicht ausreichend klar sind.

Und wie wollen Sie das ändern?

Mein schwerster Vorwurf an die Adresse der Bundesregierung ist nicht, dass die das alles nicht können; dass das sprunghafte Flickschusterei ist, heute so, morgen so. Mein Vorwurf ist, dass der Bundeskanzler in viereinhalb Jahren nicht einmal in der Lage war, einmal in einer Grundsatzrede den Menschen das Problem zu beschreiben. Leider tun das auch die nicht, die etwas oberhalb der Tagespolitik stehen und diese Beschreibung leisten könnten. Die protokollarische Nummer eins und die Nummer zwei im Staate fallen da ja fast völlig aus.

Es gibt einen ersten Ansatz, die üblichen Wege der Parteipolitik zu verlassen. Die Regierungschefs von Hessen und Nordrhein-Westfalen, Roland Koch (CDU) und Peer Steinbrück (SPD), entwerfen ein Suventionsabbaupaket.

Das halte ich auch für richtig. Ich bedaure es, auch wenn dies wahrscheinlich unvermeidlich ist, dass das sofort von einigen Kritikern wieder nur taktisch gesehen wird nach dem Motto: Ist das jetzt die Vorbereitung einer großen Koalition? Mit Verlaub, es wird keine große Koalition geben. Dieses ganze Taktik-Gerede ist ein Nebenkriegsschauplatz. Wir müssen an die Grundfragen heran. Deshalb sind solche Gespräche wichtig und richtig.

Warum nur auf der Länderebene?

Die Arbeit in den Ausschüssen auch des Bundestages ist doch in Wahrheit viel kooperativer, als das nach außen oft wirkt. Ich halte die konfrontative Auseinandersetzung in der Politik für notwendig, weil sich nur im Streit herausstellt, was richtig und was falsch ist. Aber wir müssen am Ende des Tages auch zu gemeinsamen Lösungen kommen.

Große Kooperation statt Koalition?

Zusammenarbeit da, wo sie notwendig ist und wo sie staatspolitisch geboten ist.

Das ist aber nicht mehr als die Formel der letzten Jahrzehnte. Wo gibt es eine Chance auf eine neue Qualität von Politik?

Das ist deshalb so ungeheuer schwierig, weil uns die Grundgesetzreform der Großen Koalition von 1968 wie eine Bleikugel am Fuß hängt. Der Bund kann fast nichts entscheiden, ohne die Länder zu fragen, die Länder sind abhängig von der Bundesgesetzgebung, weil sie am Steuertropf hängen. Wir haben keinen Wettbewerb zwischen den Ländern, sondern sind auf vollständigen Ausgleich aus. Da ist erheblicher Reformbedarf.

Wünscht sich ein Politiker da nicht manchmal, eine Woche lang König von Deutschland zu sein und alles umkrempeln zu dürfen?

Ich bin Demokrat und nicht Monarchist! Spaß beiseite: Die Lösung ist nicht so schwer. Wir müssen Bund und Länder wieder voneinander entflechten. Die Menschen müssen erkennen, wer für was verantwortlich ist. Dann wird politische Führung auch wieder besser möglich und besser sichtbar.

Ein bisschen Kaiser also schon …

Eine Regierung muss auch einmal etwas entscheiden können, natürlich mit dem Parlament und nicht gegen das Parlament, aber ohne dass dies vorher alles in tausend Gremien durchgekaut und abgesegnet werden muss.

Hm. So richtig viel klüger sind wir jetzt noch nicht, wie es anders werden soll mit Deutschland. Kommt vielleicht aus Ihrem Heimatland Nordrhein-Westfalen neuer Wind?

Der tragische Tod von Möllemann wird die Ereignisse dort beschleunigen. Ich glaube zwar nicht, dass die rot-grüne Koalition in Düsseldorf jetzt schon zerbricht. Steinbrück kann die SPD-Basis davon offenbar noch nicht überzeugen. Aber im zweiten Anlauf, wenn das Gewürge mit den Grünen bei der Haushaltsaufstellung weitergeht, wird er es vielleicht schaffen. Und Schröder will das ja wohl auch. Der will über Veränderungen in NRW auch die Bundespolitik beeinflussen. Ich glaube, dass sich, wenn wir in einem Jahr hier sitzen, koalitionspolitisch in Deutschland einiges verändert hat.

Da bleibt doch aber zahlenmäßig nur die große Koalition!

Warten wir es einfach ab und machen wir als Union in der Zeit unsere Hausaufgaben.

Das Gespräch führten Robert Birnbaum und Andrea Dernbach. Die Fotos machte Mike Wolff.

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