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Im Bundestag sollen bald weniger Abgeordnete sitzen, wenn es nach führenden Staatsrechtlern geht.

© John MacDougall / AFP

Die Morgenlage aus der Hauptstadt: Mehr als 100 Staatsrechtler fordern Wahlrechtsreform

GroKo startet verspätet in Klimaverhandlungen +++ Söder verspricht „Marschallplan für Klimaschutz“ +++ Professorale Gelbwesten-Demo

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Dass die zentralen Streitfragen der Republik immer nachts gelöst werden, ist psychologisch erklärbar – ohne Druck, notfalls eben selbst erzeugten, bewegt sich nix. Die Methode bleibt trotzdem ein bisschen absurd.

Der Klimagipfel der Koalition setzte auf die lichtscheue Tradition aber sogar noch eins drauf: Er konnte erst Stunden nach dem offiziellen Start so richtig ans Eingemachte gehen, weil der Vizekanzler und Finanzminister fehlte. Olaf Scholz hatte dem „Politischen Forum Ruhr“ schon vor längerer Zeit eine Rede versprochen und wollte in der Essener Philharmonie unbedingt persönlich bekräftigen, dass der Bund sich an der Sanierung überschuldeter Gemeinden beteiligen könnte, vorausgesetzt allerdings, sie kommen nicht alle gleichzeitig.

Viele Städte im einstigen Kohle- und Stahlrevier könnten eine Umschuldung gut brauchen, auch Essen: Die Stadt steht mit rund 3,3 Milliarden Euro in der Kreide. Scholz seinerseits braucht dringend ein paar weitere Fans in NRW, wenn er SPD-Chef werden will. Die Koalition wiederum braucht einen SPD-Chef wie Scholz, wenn sie nicht vorzeitig enden soll. Sie darf nur nicht schon vorher am Klima scheitern. So schließt sich ein Kreis.

„Marschallplan für Klimaschutz“

Was das Scheitern anbetrifft, kamen alle Beteiligten mit dem üblichen Zweckoptimismus ins Kanzleramt – Markus Söder versprach gleich mal einen „Marschallplan für Klimaschutz“. Aber das Klimakabinett, dem die Koalitionäre zuarbeiteten, soll vorsichtshalber heute Vormittag ab 11 Uhr nur Eckpunkte beschließen; der gut 300 Seiten starke Detailplan folgt später.

Der letzte Entwurf enthielt ja auch noch haufenweise Leerstellen, strittige Punkte und solche, die verdächtig nach Luftbuchungen aussahen. Unsere Fachkollegen vom Background Energie und Klima haben das Wichtigste aus dem Zwischenstand zusammengestellt. Ach so, und was das Scheitern anbetrifft: Die großen deutschen Naturschutzverbände glaubten bereits den Ausgang zu kennen, bevor die Runde im Kanzleramt überhaupt zusammentraf. Naturschutzring, BUND, Greenpeace und andere luden für heute Mittag zur Pressekonferenz ein. Titel der Veranstaltung: „Nach dem Versagen des Klimakabinetts“.

Was noch einmal den Druck anbetrifft: Den gibt es heute reichlich von der Straße. Wenn Sie im Lauf des Tages irgendwo im Umkreis des Regierungsviertels zu tun haben, sollten Sie vorher unbedingt einen Blick auf den Liveblog der Berlin-Redaktion werfen. Da finden Sie nicht nur die geplanten Demo-Routen und angemeldeten Kundgebungen, sondern werden auch über die reale Stop-and-Go-Lage in Echtzeit informiert.

Schaut man sich die Demo-Situation zur Abwechslung einmal aus der politischen Vogelperspektive an, ergibt sich ein interessantes Vexierbild. In Frankreich sind „Geldwesten“ massenweise auf die Straße gegangen, als ihre Regierung zwecks Klimaschutz die Benzinpreise erhöhte.

In Deutschland warnen vor allem Unionspolitiker vor ähnlichen „Geldwesten“-Demos für den Fall, dass die Regierung allzu spürbare Klimapläne fasst. Niemand scheint dort aber auf die Idee gekommen zu sein, dass die deutsche Version von Gelbwesten die sind, die für den Klimaschutz auf die Straße gehen.

Nicht zufällig verdanken wir ja den Franzosen die Revolution, sie uns hingegen das Leihwort „le Waldsterben“. Die Folge von derlei politischer Betriebsblindheit wird in Baden-Württemberg sichtbar. Winfried Kretschmanns Grüne schießen in der jüngsten Umfrage auf 38 Prozent hoch – das ist CSU-Bayernniveau. Die CDU dümpelt bei 26 Prozent – das ist aktuelles Ost-Niveau im einst tiefschwarzen Südwesten.

Staatsrechtler fordern Reform des Wahlrechts

Staatsrechtler Gemessen am Schicksal des Planeten, der Koalition oder der Volksparteien ist es ein kleines Problem, aber wahrscheinlich bedürfte es zur Lösung auch der einen oder anderen Nachtsitzung: Eine Reform des Wahlrechts.

Der Speyerer Staatsrechtler Hans-Herbert von Armin hat mehr als 100 Kollegen versammelt, die die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zur Eile zu mahnen. Eine Reform, die eine kostspielige Aufblähung des Bundestages verhindere, sei möglich und notwendig, heißt es in einem offenen Brief, der auf dem Morgenlage-Schreibtisch landete.

„Auf keinen Fall darf der Eindruck entstehen, viele Abgeordnete würden die dringend nötigen Änderungen verzögern, weil das eigene Hemd ihnen wichtiger sei als der Gemeinwohlrock“, warnen die Juristen. Unterschrieben hat praktisch die gesamte Staatsrechtsszene, egal welcher Couleur – gewissermaßen eine professorale Gelbwesten-Demo.

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