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Politik: Die Neoliberalen fordern mehr Ungleichheit - und produzieren so mehr Ungerechtigkeit (Gastkommentar)

Gleichheit und Gerechtigkeit sind keine Synonyme. Eine Gesellschaft kann ungleich, aber gerecht, gleich, aber ungerecht sein.

Gleichheit und Gerechtigkeit sind keine Synonyme. Eine Gesellschaft kann ungleich, aber gerecht, gleich, aber ungerecht sein. Die soziale Ungleichheit wird in Deutschland in den nächsten Jahren zunehmen. Wie neoliberal sollen und müssen wir werden? Und hängt davon, was wir politisch wollen, überhaupt noch etwas ab? Oder ist der Neoliberalismus nur die Begleitmusik des ökonomisch Unvermeidlichen?

Das Ende der Gleichheit", so lautet der Titel von Rainer Hanks kürzlich in dieser Zeitung abgedrucktem Essay. Text und Titel passen zum Zeitgeist. Wer eine egalitäre Gesellschaft zu konstruieren versuche, so das ebenso schlichte wie gängige Credo, der werde bei Ungerechtigkeit gegenüber jedermann und Wohlstand für niemand enden. Hank formuliert sein Postulat als "Vermutung, dass der Egalitarismus einer verteilungsgerechten Gesellschaft auf Kosten ihrer Effizienz geht. Das würde bedeuten, dass gerade der aus Gerechtigkeitserwägungen installierte Verteilungsmechanismus letztlich die Wohlstands- und Wachstumsinteressen aller Bürger unterhöhlt."

Diese Sicht hat einen beeindruckenden Siegeszug hinter sich, obwohl diese These sich nicht auf allzu viele Evidenzen stützen kann. Es gilt hier eher, was Joan Robinson, Schülerin John Maynard Keynes, bereits vor Jahrzehnten in Hinblick auf die Anziehungskraft der Laissez-Faire-Doktrin ausmachte, nämlich, dass diese eine Menge enthält, "was der Umwelt, auf die sie projeiziert wurde, nur zu willkommen war. Dass sie zu Schlüssen kam, die der einfache Laie nie erwartet hatte, erhöhte vermutlich ihr intellektuelles Prestige. Dass ihre Lehre, in die Praxis übersetzt, spartanisch und oft widerwärtig war, verlieh ihr einen Anstrich von Tugend. Dass sich auf ihr ein gewaltiger, starrer logischer Überbau errichten ließ, verlieh ihr Schönheit."

Dabei hat Hank in einem zweifellos Recht: Die Schlüsseldebatte der nächsten Jahre ist die über den Kern der Begriffe Gerechtigkeit, Gleichheit und Fairness. Und es lassen sich am Ausgangspunkt dieser Diskussion zwei Umstände als gesichert feststellen. Erstens ist eine totale Gleichheit an Wohlstand, Einkommen und Chancen kaum herstellbar und für die meisten Menschen auch nicht erstrebenswert. Und zweitens: Die Mehrheit der Bürger der kontinentaleuropäischen Länder hält eine Gesellschaft dann für gerecht organisiert, wenn sie nach mehr sozialer Gleichheit, nicht nur der Chancen, sondern auch nach Gleichheit im Ergebnis strebt.

Doch der Angriff auf die Gleichheit wird nicht nur wider die Gerechtigkeitsideale der Mehrheiten unternommen, es fehlt ihm bei genauer Betrachtung auch an Stringenz. Alle historische Erfahrung lehrt, dass ein hoher Grad an sozialer Ungleichheit ökonomischer Dynamik zumindest langfristig abträglicher ist als eine eher egalitäre Verteilungspolitik. Ein hoher Grad an Ungleichheit führt nicht nur dazu, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung aus dem produktiven Prozess herausfällt, er verfestigt diese Exklusionen über die Jahre - und die Genealogie der Generationen hinweg - zusätzlich. Dies produziert soziale Kosten. Weil die Unterklassen sich keine Hoffnungen auf einen Aufstieg machen können, werden sie weniger zum allgemeinen Wohlstand beitragen als in egalitären Gemeinwesen.

Die These, dass Ökonomien, die mehr Ungleichheit und mehr soziale Unsicherheit zulassen, deshalb "effizienter" seien, ist zudem reichlich verwegen. Ein Beispiel: Unter Margaret Thatchers neoliberaler Reformpolitik wurde das britische Verkehrswesen privatisiert, nach marktwirtschaftlichen Prinzipien umorganisiert und damit - in dieser Logik - effizienter. Weniger Busfahrer fuhren zu niedrigeren Löhnen längere Zeit, unprofitable Routen wurden stillgelegt. Die Intervalle verlängerten, die Tarife erhöhten sich, die Busflotte der einzelnen Unternehmen veraltete. Diese Unternehmen arbeiteten ohne Zweifel ökonomischer.

Aber war dies ein Beitrag zur Effizienz der britischen Ökonomie? Eher nein. Die Briten brauchen jetzt länger zur Arbeit und kommen dort entnervter an. Was die "Effizienz" eines Unternehmens steigerte, untergrub die der Volkswirtschaft. Auch der Hire-and-Fire-Kapitalismus wird zwar zu günstigeren Personalkostenstrukturen, aber langfristig zu Produktivitätsverlusten führen. Wer wird schon seine Talente entwickeln wollen, wenn er damit rechnen muss, nächste Woche entlassen zu werden?

Wer also nachhaltig Wohlstand schaffen will, muss ihn für alle schaffen. Es gibt gute Gründe, die Gleichheit gegen ihre Feinde zu verteidigen. Denn eine Gesellschaft ist nur dann gerecht, ein Gemeinwesen verdient diesen Namen nur, wenn alle mit allen durch das Band der Gleichheit verbunden sind.

Von der marktradikalen Margaret Thatcher stammt der Satz, dass so etwas wie Gesellschaft nicht existiere. In gewisser Weise bringt dieser Satz den Kern der neoliberalen Ideologie, einen rücksichtslosen entfesselten Individualismus, auf den Punkt. Eine Gesellschaft braucht hingegen ein gewisses Maß an Gleichheit. Denn wenn die sozialen Lebensverhältnisse so verschieden sind, dass die Mitglieder der Gesellschaft sich nicht mehr in die Lage der jeweils anderen versetzen können - dann hört Gesellschaft als sozialer Zusammenhang in der Tat auf zu existieren.Der Autor leitet das Auslandsressort des Wiener Nachrichtenmagazins "Format"

Robert Misik

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