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Politik: „Die neue Armut ist jahrelang ignoriert worden“

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt weist aber eine Verantwortung der Grünen zurück

Frau Göring-Eckardt, SPD und Union rufen zur Bekämpfung der neuen Armut auf – ein politisches Hoffnungszeichen?

Es ist ein Skandal, dass die großen Parteien diese Fehlentwicklung jetzt erst entdecken. Alle Daten, über die nun geredet wird, kann man seit vielen Jahren im Armutsbericht der Bundesregierung und in Untersuchungen von Wohlfahrtsverbänden nachlesen. All das ist jahrelang ignoriert worden. An den Grünen hat es nicht gelegen, dass unter der vorigen Bundesregierung zu wenig für Integration durch Bildung und für Integration durch individuelle Förderung am Arbeitsmarkt geleistet wurde.

Sie sehen keinen Fortschritt der Debatte?

Doch. Das Aussprechen dessen, was ist, ist ein erster Schritt, der möglicherweise dazu führt, dass die große Koalition dann auch etwas tut.

Was müsste denn getan werden, um dem Problem beizukommen?

Es geht um Kinder und um Erwachsene. Wir müssen Kinder in solchen Verhältnissen nicht nur durch materielle Transfers besserstellen, sondern Chancengleichheit für sie erreichen, was die Teilhabe an Bildung und Kultur angeht. Deshalb haben die Grünen die Kinder-Freizeitkarte vorgeschlagen. Sie soll dafür sorgen, dass auch Kinder, deren Eltern von Sozialtransfers leben, in die Musikschule oder ins Theater gehen können, damit sie nicht permanent vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bleiben. Von den Erwachsenen werden auch künftig kaum alle in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Deshalb müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir für jeden Fall individuelle Förderung und auch Forderungen erarbeiten können. Arbeitslose sollen ihre Stärken auch im zweiten oder dritten Arbeitsmarkt oder im Rahmen eines bürgerschaftlichen Engagements einsetzen können, das besser bezahlt ist als nach Hartz-IV-Regelsatz, und zwar auch dauerhaft. Der Ansatz der Ich-AGs und der Zusatzjobs war richtig, die Dauer von einem Dreivierteljahr aber zu kurz. Wer etwas Vernünftiges gut macht, soll das auch dauerhaft tun können, wenn es für sie oder ihn keine Chance am ersten Arbeitsmarkt gibt.

Warum betonen die Grünen in dieser Debatte die Idee einer Grundsicherung?

Eine Grundsicherung ist auch für Menschen wichtig, die nicht unmittelbar von einem Abrutschen bedroht sind. Wenn man den Sozialstaat so stark umbaut, wie das gegenwärtig geschieht, brauchen die Menschen die Gewissheit, dass es eine Grundabsicherung gibt, unter die sie nicht fallen können. Dazu gehören nicht nur materielle Grundlagen, sondern auch individuelle Fördermöglichkeiten. Wir wollen einen Anspruch auf Bildung, Weiterqualifizierung oder auf Beschäftigung im ersten, zweiten oder dritten Arbeitsmarkt verwirklichen.

Die Fragen stellte Hans Monath.

Katrin Göring-Eckardt (40) ist Vizepräsidentin des Bundestages. Die Grünen-Politikerin leitet gemeinsam mit ihrem Kollegen Markus Kurth die Arbeitsgruppe „Grundsicherung“ ihrer Fraktion.

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