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Politik: Die Patentöchter

Julia Albrecht und Corinna Ponto beschreiben, was der Ponto-Mord der RAF bei ihnen angerichtet hat

Die Frau, die in dem nüchternen Raum an einem Tisch saß, hat verweinte Augen und strähnige Haare. Sie sieht erschöpft aus, aber ihre Stimme ist sanft. „Hallo, Julia“, sagt sie zu ihrer Besucherin. Julia ist Julia Albrecht, ihre Schwester. Die Schwester von Susanne Albrecht, Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF), untergetaucht in der DDR, 13 Jahre lang verschollen, jetzt, nach dem Mauerfall, eingesperrt in einem Untersuchungsgefängnis in Berlin. Julia Albrecht war „fassungslos vor Freude darüber, dass Susanne in der Welt war“, als sie von der Verhaftung ihrer Schwester hörte. Aber jetzt sagt diese Schwester in sächsischem Dialekt: „Ich habe dich ganz vergessen.“ Für die Schwester ist es „wie ein Tritt in den Magen“.

Diese Szene von 1990 gehört zu den berührendsten Stellen im Buch von Julia Albrecht und Corinna Ponto. Die ganze geistige und emotionale Orientierungslosigkeit von Julia Albrecht bündelt sich in diesem Moment. Die Gefühlswelt der liebenden, sehnsuchtsvollen Schwester kollidiert mit der brutalen Realität. Julia Albrecht erkannte so unbarmherzig wie noch nie in der großen Schwester, was sie immer wieder verdrängt hatte: die Ex- RAF-Terroristin, die so sehr in ihrer Welt abgekapselt war, dass sie sogar ihre Schwester vergessen hatte.

Es gibt eine Flut von Büchern über die RAF, aber dieses Buch ragt heraus. Julia Albrecht und Corinna Ponto sind zwei der vielen Opfer des RAF-Terrors. Die Opfersicht ist mehrfach schon beschrieben worden, aber noch nie erfuhr man so viel von der Seelenqual und dem Gefühlschaos der Opfer. Die besondere tragische, familiäre Geschichte dieser beiden Frauen ermöglicht diesen Einblick. Der Vater von Corinna Ponto war Jürgen Ponto, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, der 1977 von einem RAF-Kommando erschossen wurde, als er sich gegen seine Entführung wehrte. Julia Albrecht war seine Patentochter, die Eltern Ponto und Albrecht waren eng befreundet. Julia Albrechts Vater war der Patenonkel von Corinna Ponto. Diese Freundschaft nützte Susanne Albrecht aus, um den RAF-Terroristen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt Zugang zu Ponto zu verschaffen. Susanne Albrecht war bei dem Mord dabei, hatte aber nicht geschossen.

30 Jahre lang verarbeiten die Familien Albrecht und Ponto getrennt ihre Trauer. Dann nimmt Julia Albrecht Kontakt zu Corinna Ponto auf, sie möchte ihre Gedanken mitteilen, sie möchte die Gedanken der anderen erfahren. Daraus entsteht ein Dialog. Der dient in diesem Buch jedoch vor allem als literarisches Gerüst: im Kern arbeiten beide für sich ihre Gefühlslage auf, eine Art befreiender Eigentherapie.

Julia Albrecht schont sich nicht dabei, beeindruckend beschreibt sie ihren geistigen Spagat zwischen der moralischen Verurteilung einer verwerflichen Tat und dem instinktiven Drang, das Bild der eigenen Schwester zu bewahren. Welche Schuld trägt Susanne Albrecht? Um diese Frage kreist ihr Denken. Sie wurde als Türöffnerin von den RAF-Hardlinern Klar und Mohnhaupt missbraucht, an diese These klammert sich die Familie Albrecht, einschließlich der Tochter Julia. Man habe „nach Indizien gesucht, die ihre nur eingeschränkte Schuld beweisen würden“, schreibt Julia Albrecht. „Wir hielten zäh daran fest, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte.“ Susanne Albrecht war nicht bloß Türöffnerin, sie war zumindest an einem weiteren Anschlag beteiligt. Sie war schon vor dem Ponto-Mord mit Sprengkapseln verhaftet worden. Eindringlich, fast qualvoll beschreibt Julia Albrecht, wie es sie bei diesem geistigen Spagat innerlich immer mehr zerreißt. Selbst als im Prozess gegen Susanne Albrecht deren Rolle als vollwertiges RAF-Mitglied immer deutlicher wird und sich Julia Albrecht fast sehnlich wünscht, die Schwester würde endlich Verantwortung übernehmen, selbst da fühlt sie zugleich noch den Drang, die Schwester zu verteidigen. „Trotzdem bleibt das Gefühl: Es kann einfach nicht wahr sein“, schreibt sie.

Im direkten Dialog der beiden Frauen geht es vor allem um diesen Punkt: Wie gefährlich war Susanne Albrecht wirklich? Corinna Ponto leidet darunter, dass niemand aus der Familie Albrecht ihre Eltern davor gewarnt hatte, dass Susanne Albrecht ins linksradikale Milieu abgedriftet war und damit eine potenzielle Gefahr für eine Wirtschaftsgröße wie Ponto darstellte. Nur deshalb ließ man sie arglos ins Haus. Corinna Ponto beschreibt ihre Seelenqualen ebenso eindringlich wie Julia Albrecht, man fühlt mit ihr, wenn sie bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage immer wieder eine große Leere empfindet. Und konsequent hält sie sogar im Kleinen größtmögliche Distanz zu der Frau, die am Mord an ihrem Vater beteiligt war. Susanne Albrecht heißt bei ihr nur „S.“. Ein Schutzschild, das auch nach 34 Jahren standhält. Wer je verstehen möchte, in welche psychischen Tiefen Angehörige von Opfern oder Tätern stürzen können, der wird mit diesem Buch auf beeindruckende Weise bedient.

Vorsichtiger muss man freilich bei den historischen Passagen sein. Corinna Ponto vermutet, dass die Stasi viel früher und viel stärker in die RAF-Aktionen involviert war als gemeinhin bekannt. Sie bezieht sich auf eigene Recherchen, aber auch auf entsprechende Dokumentationen. Diese These wird zwar immer wieder verbreitet, doch stichhaltige Beweise gibt es bis heute nicht. Aber das sind Nebensächlichkeiten, verglichen mit der Bedeutung der anderen Schilderungen.

Für Corinna Ponto und Julia Albrecht zählt ohnehin vor allem nur eins: Nach jahrzehntelangem Schweigen führte der Dialog die beiden Frauen doch noch zusammen. „Indem wir uns die Erinnerungen mitteilten, konnten wir sie teilen“, schreibt Corinna Ponto. Ein wenig vermag das nun auch der mitfühlende Leser.





–– Julia Albrecht,

Corinna Ponto:

Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 216 Seiten, 18,95 Euro.

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