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Politik: Die politischen Aussichten für das neue Jahrtausend waren deprimierend...

bis der Herrgott den Deutschen einen Aktenkoffer mit einer Million Mark geschickt hatBernd Ulrich Man kann die Möglichkeit nicht ganz und gar ausschließen, dass es keinen Gott gibt. Aber wenn es einen gibt, dann schaut er mit besonders wachem Auge auf die Deutschen.

bis der Herrgott den Deutschen einen Aktenkoffer mit einer Million Mark geschickt hatBernd Ulrich

Man kann die Möglichkeit nicht ganz und gar ausschließen, dass es keinen Gott gibt. Aber wenn es einen gibt, dann schaut er mit besonders wachem Auge auf die Deutschen. Das kann man verstehen, nach allem, was sie im ablaufenden Jahrhundert so getan und getrieben haben. Anders jedenfalls als mit einer Art Schutzhaft des Schicksals lässt sich kaum erklären, warum den Deutschen in den letzten zehn Jahren so viel - unverdientes - Glück zuteil wurde. Von der Einheit bis zum Fußball: immer nur Dusel, Dusel, Dusel. Und jetzt schon wieder. Das nächste Jahr wird uns etwas nie Dagewesenes bringen, etwas bis vor kurzem Undenkbares: Gerhard Schröders geistig-moralische Wende.

Den Regierungswechsel 1998 hat des Volkes Mehrheit nicht mit Glück, sondern ganz allein hinbekommen. In diesem Jahr jedoch hat es wählend, zeternd und demonstrierend dafür gesorgt, dass der berüchtigte Reformstau sich nicht lösen konnte. Bis tief in den November hinein war allen klar, dass die rot-grüne Regierung ein fürchterliches Jahr 2000 erleben würde, beginnend mit zwei Wahlniederlagen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Das waren die politischen Aussichten für den Beginn des neuen Jahrtausends - deprimierend.

Doch dann hat der Herrgott, oder eine ihm verwandte Instanz, den Deutschen einen Aktenkoffer geschickt mit einer Million Mark drin. Und seitdem haben sich die Perspektiven schlagartig zum Besseren gewendet: Die CDU ist bis auf Weiteres nicht mehr regierungsfähig, das reformunwillige Volk kann der reformwilligen rot-grünen Regierung infolgedessen nicht mehr mit Abwahl drohen. Es kann noch zetern, es kann demonstrieren und bei Bedarf sogar streiken - die rot-grüne Regierung bleibt trotzdem am Ruder. Sie könnte in aller Ruhe die unausweichlichen Schnitte vollziehen, bei der Rente, bei der Gesundheit, beim Haushalt und bei den Steuern.

Die Regierung könnte. Kann sie auch? Ob sie dort weitermachen kann, wo sie in den letzten Wochen begonnen hat, hängt davon ab, wie man eine der offen gebliebenen Fragen des Jahres 1999 beantwortet: Hat die Schröder-Fischer-Regierung nur deswegen so ausdauernd dilettiert, weil das Volk sich reformunwillig gebärdet hat, indem es Rot-Grün eine schwere Wahlniederlage nach der anderen bescherte? Und weil Rote wie Grüne noch nicht genügend Erfahrung im Steuern des Staats-Schiffes hatten? Oder geht die Unfähigkeit zu regieren noch tiefer?

Auch wenn die Wähler vorerst entwaffnet sind - nervös machen können sie eine Regierung durch medial verstärktes Kriegsgeschrei allemal. Und Grund für Geschrei wird es geben: Die von Hans Eichel angekündigten Steuersenkungen haben das Publikum zunächst sehr verblüfft. Gerade eben hatte man verstanden, dass gespart werden muss, schon werden neue Wohltaten versprochen. Eichel hat, sicher mit Rücksicht auf den Advent, verschwiegen, dass er die Steuern nur wird senken können, wenn er gleichzeitig noch mehr spart als bisher. Diese harte Wahrheit wird im kommenden Jahr von keinerlei Kerzenschein gemildert. Und auch der Herrgott, der es sonst so gut mit den Deutschen meint, wird nicht die Mathematik außer Kraft setzen wollen, nur weil wir so schmerzempfindliche Seelen sind.

Schon aus diesem Grund, weil Steuererleichterungen ohne Einsparungen kaum denkbar sind, wird es erneut eine Gerechtigkeitsdebatte geben. Und wegen der Arbeitslosen. Das Jahr 1999 bescherte ihnen einige Treffen des Bündnisses für Arbeit, das heißt: zum persönlichen Schaden den politischen Spott. Die Bündnis-Kränzchen wurden, vor allem vom IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, dazu missbraucht, die je eigenen Klientel-Interessen zu vertreten. Die Arbeitslosen sind nur leider keine Klientel, nicht einmal für den Bundeskanzler, weil sie als Wählergruppe keine Rolle spielen. Zwickel hat ein Jahr lang das Bündnis für Arbeit mit seiner Rente ab 60 blockiert. Ein Modell, das den Arbeitslosen kaum hilft, dafür aber zu Lasten von Frauen und jüngeren Arbeitnehmern geht. Warum tut er das?

Bereits das Jahr 1999 hat gezeigt, dass es auf eine klassisch linke Frage, die Frage nach der Gerechtigkeit, keine klassisch linken Antworten mehr gibt. Das führte in der SPD zu ebenso verzweifeltem wie konzeptionell wirrem Protest gegen den Sparkurs von Hans Eichel. Diese ganze Bewegung erlosch beim Berliner SPD-Parteitag, sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, eine ernst zu nehmende Debatte darüber anzuzetteln. Damit ist die Frage nach der Gerechtigkeit aber weder überholt noch beantwortet. Sie wird im Jahr 2000 weiter vagabundieren.

Man wird demonstrieren, man wird gegebenenfalls auch streiken. Nur mit dieser Perspektive hat das Verhalten Zwickels einen Sinn. Noch einmal möchte er mit seiner plakativen Forderung nach der Rente ab 60 die Macht des männlichen, dauerhaft in einem Beruf, gar in einem Betrieb tätigen und über 45 Jahre alten Arbeitnehmers demonstrieren. Dass dies ein Minderheiten- und Vergangenheitsprogramm ist, liegt auf der Hand. Muss die IG-Metall die Auseinandersetzung darum verlieren? Keineswegs. In der Gerechtigkeitsfrage steckt viel Energie, die nicht weiß, wo sie hin soll; so viel, dass sie sich auch auf untaugliche Gegenstände richten kann, nur um sich überhaupt entladen zu können. Wer immer es versteht, diese Energie auf seine Klientel-Interessen zu lenken, hat beste Gewinnchancen.

Natürlich wäre es die Aufgabe der Schröder-Regierung, diese frei flottierenden Gerechtigkeitsenergien zu bündeln. Bisher ist ihr das kaum gelungen. Immer da, wo Politik mit Sinn, mit Normen, mit Zielen zu tun bekommt, war die Regierung schwach. Da, wo sie ausschließlich mit Zahlen zu tun hatten, war Schröder, war vor allem Hans Eichel relativ stark. Hauptsächlich deswegen, weil die Sache mit dem Sinn verdammt schwer geworden ist. Und im nächsten Jahr noch weit schwieriger werden wird.

Das hat mit dem Jahrtausendwechsel zu tun. Das Jahr 2000 ist ein Katalysator für Entwicklungen, die lange vorher, spätestens aber seit 1989 eingesetzt haben. Ideologien prägten die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie blamierten sich nachhaltig und überlebten allenfalls in abgeschwächter Form. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war man, insbesondere in Deutschland, damit beschäftigt, die Wunden zu lindern, die Nationalsozialismus und Kommunismus geschlagen hatten. Das gab eine gewisse Richtungsgewissheit. Weg von Auschwitz, das war das eigentliche Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland. Konsens ist dieses Weg-Von noch immer. Nur, wohin die Reise gehen soll, das lässt sich aus dieser Negativ-Bestimmung nicht mehr ableiten. Die Tatsache, dass wir in ein neues Jahrhundert eintreten, erhöht den Grad des Vergangenseins unserer Geschichte. Sie beschwert uns weniger, sie leitet uns aber auch nicht mehr so.

Die soziale Gerechtigkeit ist von diesem Perspektivwechsel doppelt betroffen. Die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs kann nicht mehr mit der konkurrierenden Macht im Osten, also dem Systemgegner Kommunismus begründet werden. Und die unterschwellig lange Zeit sehr wirkungsvolle Vorstellung spielt keine Rolle mehr, die Deutschen würden in irgendeine Form der Barbarei zurückfallen, wenn die soziale Unzufriedenheit zu groß würde.

Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit muss sich darum anders begründen als früher. Die Gerechtigkeit ist insofern heimatlos geworden: Sie hat keine starken Anführer mehr, ihre alten Protestformen sind obsolet, und die alten (Hilfs-)Argumente wirken kaum noch. Doch der Gerechtigkeitshunger lässt nicht nach.

Bisher hat die Regierung Schröder allerlei ausprobiert, um mit diesem Defizit fertig zu werden. Sie hat ihre Wahlversprechen wahrgemacht. Das war die Phase Lafontaine, die ist vorbei. Sie hat versucht, Eichels Sparpaket mit Gerechtigkeitsargumenten aufzuladen. Das ist ihr nur teilweise gelungen. Und sie hat im Fall Holzmann mit sozialem Symbolismus Stimmung gemacht. Das trägt auf Dauer wahrscheinlich nicht.

All diese Versuche wurden überstrahlt von Schröders pragmatischem Gestus, der alles, was den Eindruck von Idealismus, Vision oder auch nur mittelfristiger Orientierung machte, unter Ideologieverdacht stellte. Solch anti-ideologischer Pragmatismus lebt allerdings davon, dass es noch relevante Ideologien gibt, oder wenigstens ein paar barocke Dogmatiker in den eigenen Reihen, gegen die er sich profilieren kann. Daran wird es künftig mangeln. Sogar Rudolf Dressler, der Missionar des Gestern, verlässt das Land.

Und dann wird in zwei Tagen auch noch diese pathetische Phrase als Silvesterknaller im Himmel über Berlin verlöschen, dass wir uns fit machen müssten für das nächste Jahrhundert. Übermorgen wird es begonnen haben, das neue Jahrtausend, dann bleibt von den großspurigen Aufbruchs-Sätzen nicht mehr viel übrig.

Es hilft nichts. Im nächsten Jahr wird die Regierung in einem Fach reüssieren müssen, das ihr bisher fremd war: Sinn. So freundlich meint es der Herrgott mit den Deutschen, dass er ihnen nicht bloß die richtige Politik frei Haus liefert, indem er die Opposition für einige Zeit außer Kraft setzt, sondern uns auch noch - als Dreingabe - ein interessantes Experiment bietet: Gerhard Schröders Wendung zum Geistig-Moralischen.

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