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Politik: Die Provinz als Avantgarde

Bürgerrechtler erinnern sich, wie vor 15 Jahren die Stasi in den DDR-Bezirksstädten gestürmt wurde

Nirgends konnte man so gut demonstrieren wie in der Leipziger Innenstadt. Alles, was wichtig ist, stellte sich ganz von selbst am Weg auf. Zwei Rathäuser, Kirchen. Und die Leipziger Stasizentrale. Sie hieß die „Runde Ecke“.

„Runde Ecke" heißt das Haus noch heute, weil es einerseits ein Eckhaus ist, andererseits vorn sehr rund, und weil die Sachsen einen Sinn für solche Namen haben. Ein bisschen anmaßend sieht es noch immer aus, genau wie sein früherer Hauptmieter. Am 27. Oktober 1989 zeigte sich die Leipziger Staatssicherheit zum ersten Mal genervt. Sie nahm den Posten weg, der Jahr um Jahr vor der Tür Wache hielt. Wegen „35 Fällen der provokativen Belästigung“, darunter „Ausspucken und Urinieren in der Nähe unserer Posten“. Die Beschriftungen über dem nunmehr postenlosen Stasi-Haupteingang wechselten: „Faultierfarm“ oder „Wegen Inventur geschlossen“.

Im Kinosaal der „Runden Ecke“ mehren sich am Wochenende die Anzeichen einer gewissen Wohlgelauntheit. Hier im Kinosaal haben früher die Geheimdienstler Filme über das Volk gesehen. Jetzt hält das Volk Vorträge. Genau vor 15 Jahren besetzten Bürger in der ganzen DDR die Stasizentralen. Der erste Vortrag heißt „Die Auflösung der Staatssicherheit im Bezirk Erfurt“. Gegen Mittag nähert sich die Kinosaal-Gemeinde unfehlbar dem Vortrag „Die Auflösung der Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt“. Insgesamt werden es vierzehn Vorträge. Irgendwann hört man auf, die Titel nachzuschlagen. Sie heißen alle gleich. Wissenschaftler, Untergruppe Vergangenheitsaufarbeiter, sind einfach Liebhaber des Details. Das Gesamtbild steckt in dem einen Satz: Am 4. Dezember besetzten die Bürger fast überall im Land die Zentralen der Staatssicherheit. Nur eben in Berlin nicht. Die Provinz ist die wahre Avantgarde. Und Leipzig wiederum war die Avantgarde der Avantgarde, auch diesmal. Hier haben sie schon am 4. September im Nikolaikirchhof „Stasi raus!“ gerufen. Und am 16. Oktober kam die Montagsdemo mit fast 200 000 Mann an der „Runden Ecke“ vorbei. Aber der Dezember-Impuls Besetzt-die-Stasi-Zentralen! kam nicht aus Leipzig, sondern aus Erfurt. Am frühen Morgen des 4. Dezember drangen die Erfurter „Frauen für Veränderung“ und auch ein paar Erfurter Männer in die Stasizentrale ein und versiegelten Archivräume. Sie hatten gehört, dass die Stasi systematisch Akten vernichtet. Die Staatssicherheit hatte sich gerade ein wenig umbenannt („Amt für Nationale Sicherheit“), umdefiniert und beseitigte nun die „Akten, die mit der falschen Sicherheitskonzeption in Verbindung zu bringen sind“. Fast am Ende ist Rostock dran. Dort hatten in der Nacht viele Stasi-Mitarbeiter ihre Dienststellen verlassen, um sie nie wieder zu betreten. Am nächsten Morgen hing ein Schild vor der Tür: „Aus moralischen Gründen geschlossen“.

Überraschend ist es, heute zu hören, dass fast überall selbst die Bürgerkomitees sich nicht vorstellen konnten, die Stasi-Unterlagen einmal öffentlich zu machen. Wäre es nicht ein zu großer Triumph der Staatssicherheit, das Gift ihrer Akten noch postum übers Land zu schicken? Andererseits hatte noch nie ein ausgespitzeltes Volk die Unterlagen eines Geheimdienstes erobert. Es kam, um die Aktenvernichtung zu stoppen.

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