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Die Riten des Wahlabends: Ganz Amerika wartete auf Mitt Romney

Am Nachmittag hat er noch Basketball gespielt. Danach aber blieb auch Barack Obama nichts anderes übrig, als zu warten – auf seinen Herausforderer Mitt Romney. Wie die beiden Kontrahenten die Wahlnacht verbrachten.

Es ist um Mitternacht in Amerika. Da scheinen die Machtverhältnisse zwischen den beiden Hauptpersonen plötzlich auf dem Kopf zu stehen. So als richte sich auch das reale Leben mitunter nach den verrückten Regeln einer märchenhaften Geisterstunde.

Da ist ist also der mächtigste Mann der Welt. Ungefähr 40 Minuten vor Mitternacht verkünden die Fernsehstationen, dass er es weitere vier Jahre bleiben wird. In Ohio, dem entscheidenden Swing State, liegt Barack Obama nach ihren Berechnungen nun uneinholbar in Führung. Und Ohios 18 Wahlmännerstimmen heben ihn über die magische Zahl 270, die man in den USA braucht, um Präsident zu werden. Dennoch wirkt der Sieger merkwürdig machtlos. Er sitzt mit seiner Familie und wenigen engen Freunden in einer Suite im Fairmont Hotel in Chicago.

Er könnte jetzt losmarschieren und sich den wartenden Anhängern zeigen. Er könnte ihnen die Erleichterung schenken, auf die viele von ihnen über Monate hingearbeitet haben. Er könnte aufstehen und den Erfolg bestätigen, aber er tut es nicht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als geduldig zu warten. Darauf zu warten, was der Andere machen wird: sein Herausforderer Mitt Romney.

Es ist nur ein Katzensprung von Obamas Hotel zum McCormick Place, dem riesigen Kongresszentrum, wo sich tausende Anhänger versammelt haben. Sie umarmen sich, sie machen Luftsprünge, als sich die Nachricht von den 18 Wahlmännerstimmen verbreitet. Und nun möchten sie Obama möglichst bald auf der Bühne sehen, die mit amerikanischen Fahnen geschmückt ist. Sie wollen ihn bejubeln. Sie wollen eine Siegesrede hören, die dem hässlichen Wahlkampf eine versöhnliche und erhebende Note verleihen soll. Bisher haben es Obama und seine Redenschreiber noch immer geschafft, solchen Momenten mit rhetorischen Kniffen die Aura einer historischen Wende zu verleihen. Doch da ist kein Obama.

Der andere, Mitt Romney, verbringt den Abend ebenfalls in einer Hotelsuite im Kreis seiner Familie: mit Ehefrau Ann, den fünf Söhnen, ihren Ehefrauen und der Mehrzahl der 18 Enkelkinder. Sie haben 1700 Kilometer weiter östlich, in Boston, verfolgt, wie die Wahlergebnisse einlaufen.

Von Verlierern heißt es gemeinhin, dass sie an Einfluss einbüßen. Doch in diesem Moment entscheidet Romney, wie es in Amerika weiter geht. Alles hängt von ihm ab. Er müsste jetzt langsam mal zum Telefonhörer greifen, Obama gratulieren und seine Niederlage eingestehen. So sehen es die traditionellen Rituale amerikanischer Wahlabende vor. Danach hat der Unterlegene den Vortritt beim Gang vor die Fernsehkameras. Der Verlierer darf zuerst reden, zu seinen Anhängern und zur Nation, so lange man von ihm überhaupt noch etwas wissen will. Das ist mehr als eine Geste. Sein Auftritt gibt dem Ergebnis etwas Unabweisbares, es bereitet in einer Demokratie den Boden.

Mitt Romney lässt sich jedoch Zeit. Sehr viel Zeit. Mehr als eine Stunde lässt er das Land warten. Und die Kommentatoren beginnen sich zu fragen, was hier gespielt wird. Haben sie etwas übersehen? Meint Romney allen Ernstes noch einen Pfad durch das Auszählungswesen zu kennen, auf dem ins Weiße Haus gelangen könnte?

Am Morgen hatten Romneys Sprecher verkündet, er habe keine Verlierer-Rede vorbereitet, rechne fest mit dem Sieg.

Man durfte das als leere Rhetorik verbuchen. Sagt man derlei nicht, um die eigenen Anhänger an den Erfolg glauben zu lassen? Nichts weiter als ein psychologischer Trick also. Ebenso wie Romneys überraschende Entscheidung, am Morgen des Wahltages noch rasch zwei Staaten zu besuchen: Ohio und Pennsylvania.

In Ohio sahen alle das entscheidende Schlachtfeld. Aber Pennsylvania? In den Umfragen führte Obama dort klar. Romney brauchte aber eine Antwort auf die Frage, wie er Präsident werden könne, falls er in Ohio verliere. Seine Wahlkampfmanager hatten darauf geantwortet, nach ihren Erkenntnissen sei das Rennen in Pennsylvania ganz knapp. Wenn die religiöse Rechte, die dort stark vertreten ist, in hoher Zahl Romney wähle, könne er den Staat gewinnen und so einen Verlust in Ohio ausgleichen.

Nun gut, man werde sehen, wie der Tag in Pennsylvania verlaufe, kommentierten die Experten. Aber dass Romney keinen Redetext für den Fall einer Niederlage entworfen haben wollte, klang dann doch zu abwegig.

Romney gilt als Streber-Typ. Der werde sich auf jede erdenkliche Lage einstellen – auch auf die Möglichkeit einer Niederlage. Die Chancen standen schließlich 50 zu 50. Wartete das Land also tatsächlich auf einen Mann, der erst noch seine Rede schreiben musste? Die Rede, mit der er vielleicht für immer von der politischen Bühne abtreten würde?

Der frühere Gouverneur hatte sich den Amerikanern als der bessere Krisenmanager empfehlen wollen. Seine eigene Krise kündigte sich im Laufe des Abends deutlich an: Obama gewinnt diese Wahl nicht knapp, wie es die Umfragen in den Vortagen vermuten ließen. Ihm gelingt ein ziemlich eindrucksvoller Triumph, fast wie 2008.

Wie hat er das geschafft? Die meisten Bürger sind unzufrieden mit der Wirtschaftslage, klagen über die anhaltend hohe Arbeitslosenquote von 7,9 Prozent, das laue Wachstum und die rapide steigende Staatsverschuldung. Da lag die Prognose nahe, dass es ganz eng werden würde und Obama eine Reihe jener 29 Staaten, in denen er vor vier Jahren die Mehrheit geholt hatte, an die Republikaner verlieren werde.

Um Mitternacht hatte er nur zwei dieser Staaten abgegeben: Indiana und North Carolina. Beide gelten als Republikanergebiet. Wenn es eine Überraschung gab, dann 2008, als Obama sie gewann. Sie nun an die Konservativen zurück fallen zu sehen, ist nur normal. Viel wichtiger würden acht Swing States sein. Florida, New Hampshire und Virginia ganz im Osten an der Atlantikküste. Ohio und Wisconsin an den Großen Seen. Iowa als Farmstaat im Mittleren Westen. Und, mit zwei Stunden Zeitdifferenz, die Mountain States Colorado und Nevada.

Auch die Obamas hatten sich auf eine lange Nacht eingestellt. Und deshalb den Tag genutzt, um sich zu entspannen und zu wappnen. Zum ersten Mal seit langem waren sie wieder in ihrem eigentlichen Zuhause in Chicago, wo sie vor dem Einzug ins Weiße Haus gewohnt hatten: eine Villa im Stadtteil Hyde Park, nahe dem Universitätsviertel. Obama hatte sie im Sommer 2005 gekauft für 1,6 Millionen Dollar. Das war ziemlich genau der Vorschuss, den ihm sein Buchverlag damals für die Neuauflage seines ersten Buches „Dreams from My Father“ und sein neues Werk „The Audacity of Hope“ zahlte.

Die beiden Töchter Malia und Sasha waren erst am Nachmittag aus Washington eingeflogen, in Begleitung von Großmutter Marian. Vormittags hatten sie noch Schule. Als der Präsident noch sechs Fernsehinterviews für regionale Sender in den Swing States gab, um letzte Wähler zu mobilisieren. Am Nachmittag beruhigte er seine Nerven, indem er mit alten Bekannten in einer abgesperrten Turnhalle Basketball spielte: Freunde wie Marty Nesbitt und sein persönlicher Assistent Reggie Love, politische Vertraute wie Bildungsminister Arne Duncan, berühmte Sportstars wie Randy Brown von den Chicago Bulls. Ein Mitspieler, der Regionalpolitiker Alexi Giannoulias, ließ verlauten, Obamas Team habe mit 20 Punkten Vorsprung gewonnen.

Nach außen interpretierten seine Sprecher diesen Zeitvertreib als Beleg für die Gelassenheit und Siegeszuversicht. Auch vor früheren Wahlsiegen habe er mit diesen Freunden am Wahltag Basketball gespielt, 2004 bei der Bewerbung um den Senatssitz und 2008 im ersten Präsidentschaftsrennen. Ein gutes Omen.

Irgendwann haben auch Geisterstunden ein Ende

Um 18.17 Uhr war Obama zurück in seiner privaten Residenz. Er aß im Kreis der erweiterten Familie zu Abend. Michelles Bruder Craig Robinson war mit seiner Familie dabei, ebenso Baracks Halbschwester Maya Ng-Sotero aus der zweiten Ehe seiner Mutter mit einem Indonesier. Sie ist mit einem Asiaten verheiratet und lebt auf Hawaii. Um 21.27 Uhr fuhr der Präsident, begleitet von Verwandten und Freunden, ins Fairmont Hotel, um dort die Auszählung zu verfolgen.

Erwartungsgemäß hatten die Republikaner in Florida, Ohio und Virginia in den ersten Stunden vorne gelegen. Ihre Anhänger wohnen überwiegend in ländlichen, nicht sehr dicht besiedelten Gebieten, wo man schneller durch ist mit dem Zählen. Langwieriger ist der Prozess in den städtischen Großräumen, wo die Demokraten ihre Klientel haben. Im Laufe des Abends schrumpfte so der Vorsprung der Konservativen. Obama ging allmählich in fast allen Swing States in Führung, auch in Ohio und Florida. Es blieb freilich knapp.

Nur wenn die Experten der Fernsehsender gefragt wurden, ob Romney den dünnen Vorsprung Obamas in diesen Staaten noch wettmachen könne, schüttelten sie zweifelnd den Kopf. Nach und nach waren die Gebiete, wo überwiegend Republikaner wohnen, zu nahezu hundert Prozent ausgezählt. Die fehlenden Stimmen würden fast ausschließlich aus Regionen kommen, wo die Demokraten den Ton angeben. In Romneys Hauptquartier in Boston sah man die Katastrophe heraufziehen, es wurde immer stiller.

Die Stimmung war gedrückt, als die Fernsehsender Obamas Sieg verkündeten. Man wechselte die Kanäle. Doch überall war die Botschaft dieselbe: Obama ist nicht mehr zu stoppen.

In diesem Moment sickert die Nachricht durch, Romney sei noch nicht bereit, die Niederlage einzugestehen. Heißt das, dass er kämpfen wolle? Es muss einen Grund für sein Zögern geben. Hat er womöglich Anlass, die Auszählung in Florida und Ohio anzufechten? Und wenn es so kommt, wären die Republikaner Herren des Verfahrens, denn die Gouverneure dort gehören zu ihrer Partei. Das war doch auch 2000 der entscheidende Vorteil, als George W. Bush am Ende doch noch Al Gore besiegte.

Doch irgendwann haben auch Geisterstunden ein Ende. Es ist 0.45 Uhr in Washington, als die Sender verbreiten, Romney habe den Anruf, auf den das Land so lange warten musste, getätigt. Gleich werde er zu seinen Anhängern sprechen.

Mitt Romney betritt die Bühne in Boston unter lautem Beifall. „Ich habe soeben dem Präsidenten gratuliert“, sagt er. Ein einzelnes „No!“ schallt durch den Raum. Es bleibt der einzige Protestruf. Zaghaft beginnen die ersten zu applaudieren. Noch klingt es dünn. Als Romney weiter spricht, mit einem Lächeln im Gesicht, lässt sich zumindest einer der Gründe erahnen, warum das Land warten musste. Offenbar hat er mit Obama den Tenor ihrer Botschaft abgesprochen. Die Wahl ist vorbei, aber Amerikas Werte bleiben bestehen. Er werde für den Erfolg des Präsidenten beten. Er werde ihn unterstützen, zum Wohle Amerikas.

Eine halbe Stunde später tritt in Chicago Obama ans Mikrofon – unter frenetischem Jubel. Seine Fans lassen ihn lange nicht zu Wort kommen, skandieren „Four more years!“

Obama greift zum Pathos: In Amerika darf jeder seinen individuellen Traum verfolgen. Aber am Ende „bilden wir eine Familie, die gemeinsam aufsteigt oder abstürzt“. Er dankt jedem Einzelnen, der an diesem Tag gewählt hat, egal ob er für ihn oder für Romney gestimmt hat. Das „Wir“ soll alle einschließen. „Wir erkämpfen uns unseren Weg zurück“, sagt er, um dann den Satz hinzuzufügen, der sein „Yes we can“ ablösen wird: „The best is yet to come“, das Beste liegt noch vor uns. Das ist der Ton, der an das Herz dieses Landes rührt. Das ist der Kniff. Amerika braucht jetzt nichts dringender als einen Aufbruch. Und eine Versöhnung, die ihn möglich macht.

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