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Malu Dreyer und Martin Schulz.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Die SPD vor dem Parteitag: Malu Dreyer, die Entschlossene

Wenn eine, dann sie. Malu Dreyer soll die Basis der SPD beim Parteitag am Sonntag dazu bringen, einer neuen großen Koalition zuzustimmen. Dabei war sie selbst skeptisch bis zuletzt.

Gegen sechs Uhr morgens fährt die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer am vergangenen Freitag aus dem Erdgeschoss in den vierten Stock des Willy-Brandt-Hauses, dort ist ihr Büro als neue stellvertretende Vorsitzende der SPD. Unten vor der Bundesparteizentrale warten noch immer die Journalisten und Kamerateams, vier Tage Sondierungen liegen hinter allen und am letzten Tag wird jetzt bald 24 Stunden am Stück verhandelt.

Deutschland wird gerade wach, als Dreyer in das Büro geht, die Tür schließt und dabei ausnahmsweise mal – allein ist. So erzählt sie es später. Sie war bisher eine der größten Gegnerinnen einer großen Koalition, jetzt muss sie endlich auch für sich persönlich Klarheit finden. Sie hat so viele Gespräche mit Parteifreunden geführt, hat mit ihrem Ehemann telefoniert. Und nun, hier oben im Büro, macht sie es wie immer, wenn sie eine schwere Entscheidung zu fällen hat: Sie horcht in sich hinein. „Ich kann dann fühlen, ob es richtig ist. Das ist meine innere Gewissheit. So kann ich später zu der Entscheidung stehen.“

Malu Dreyer wird das auch müssen. Denn am kommenden Sonntag beim Sonderparteitag der SPD in Bonn wird darüber abgestimmt, ob die Basis der Parteispitze folgen wird. Der Ministerpräsidentin aus Rheinland-Pfalz kommt aus zwei Gründen eine Sonderrolle zu: Sie ist diejenige, die im Vorfeld am lautesten eine Minderheitsregierung ins Spiel gebracht hat. Gleichzeitig ist sie die derzeit beliebteste Politikerin in ihrer Partei. Auf dem Parteitag im Dezember wurde sie mit 97,5 Prozent der Stimmen erstmals zur Vize gewählt, das war das mit Abstand beste Ergebnis der sechs Stellvertreter.

Am vergangenen Freitag also, nachdem die Sondierer schließlich gegen neun Uhr den Durchbruch verkündet und der 45-köpfige Parteivorstand der Sozialdemokraten bei sechs Gegenstimmen ebenso wie die Fraktion Koalitionsverhandlungen gebilligt haben, sitzt am frühen Abend eine recht aufgekratzte Malu Dreyer in der Landesvertretung von Rheinland-Pfalz. Zu diesem Zeitpunkt hat sie länger als 30 Stunden nicht geschlafen. Sie entschuldigt sich lachend dafür, dass ihr Blazer nicht zum Top darunter passe, und erzählt, wie „wirklich toll“ sich das SPD-Sondierungsteam verstanden habe, auch, weil es sich jeden Abend noch in der „Ming Dynastie“ getroffen habe, einem chinesischen Restaurant. Sie vermittelt trotz der Bürde, die auf der Partei lastet, immer das Gefühl, dass Politik ein sehr ernsthaftes Geschäft ist und ihr zugleich „großen Spaß macht“.

Durchsetzungsstark und lustig

Den Hamburger Ersten Bürgermeister und ebenfalls SPD-Vize Olaf Scholz haben die Genossen früher immer aufgezogen, wenn er mal wieder schlecht gelaunt war, mit den Worten: „Na, Olaf, bist du heute wieder hanseatisch drauf.“ Über Dreyer sagt einer der Spitzengenossen: „Die ist durchsetzungsstark und lustig – das ist eben ein super Mix.“

Sie wird demnächst 57 Jahre alt, seit 2013 ist sie die Nachfolgerin von Kurt Beck als Landeschefin in Mainz, wo sie mit Grünen und FDP eine Ampelkoalition führt. Es ist nicht wirklich so, dass sie die Dinge leicht nimmt, sie macht sie nur leichter, indem sie sie so gut es geht versachlicht. Aber nun muss sie eine persönliche Wende begründen, schließlich hatte ihr Votum gegen eine große Koalition sehr vielen Genossen in der Partei aus dem Herzen gesprochen. Sie sagt zu den Sondierungen: „Ich habe wirklich sehr lange und intensiv mit mir gerungen. Ich habe mir gesagt, wenn ich da zustimme, dann muss ich es an Inhalten festmachen und erklären können. Das kann ich jetzt guten Gewissens tun.“

Wenn sie Inhalte aufzählen soll, die sie meint, nennt sie vor allem die Passagen zu einem „sozialen solidarischen Europa“ oder die Parität zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie sagt, dass am Ende der Verhandlungen die Kanzlerin selbst festgestellt habe, wie unterschiedlich Union und SPD in Wahrheit seien. Dreyer war überrascht, dass es Merkel aufgefallen war, weil sie genau das Gleiche gedacht habe: „Wir sind viel mehr verhaftet mit der Arbeitnehmer- und Beschäftigtenseite als die Union, wir fühlen deren Sorgen. Das ist ein wesentlicher Unterschied.“ Aber wird das am Ende reichen, um den Parteitag zu überzeugen?

Noch immer ist in Wahrheit die Situation der Partei dramatisch wie nie zuvor, ja vielleicht auch tragisch, und es ist noch nicht entschieden, ob es am Ende eine Tragikomödie mit Happy End wird oder ein Drama mit tödlichem Ausgang für diese Volkspartei. Es gibt Leute in Rheinland-Pfalz, denen Dreyer gesagt haben soll, wenn man wieder eine große Koalition eingehe, werde man nochmals 100 000 Wähler verlieren.

Überall dasselbe: die Basis ist dagegen

100 Prozent für Martin Schulz bei seiner Wahl zum Parteichef im Februar 2017, dann 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl, das historisch schlechteste Ergebnis der SPD – das sind die paradoxen Wegmarken dieser Partei. Was folgte, war die noch am Abend des 24. September wie befreit wirkende Ankündigung des Parteichefs, die SPD in die Opposition führen zu wollen. Die gerade gedemütigten Genossen jubelten, als hätten sie die Wahl doch noch gewonnen. Nach außen wirkte die Partei klar, im Inneren aber war sie zerrissen und stritt über den Kurs und das Personal. Martin Schulz blieb Parteichef, weil zwei, die es irgendwann werden könnten, es zu diesem Zeitpunkt nicht wollten: die neue Fraktionschefin und ehemalige Arbeitsministerin Andrea Nahles und die ehemalige Familienministerin und jetzige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig.

Manche sagen, wenn Malu Dreyer es selbst wollte, würde sie den Parteivorsitz sofort bekommen. Aber sie will nicht. Sie weiß, dass schon ihre Bundesratspräsidentschaft im vergangenen Jahr sehr viel Kraft gekostet hat.

Die Analysten in der Partei aber sehen, dass das 100-Prozent-Ergebnis des Martin Schulz aus dem vergangenen Februar nichts anderes war als der Ausdruck einer sehr großen Hoffnung und Sehnsucht, eine Art blinder Vertrauensvorschuss. Doch am Ende blieb wieder nur die Enttäuschung. Auch deshalb steht Malu Dreyer so hoch im Kurs, weil, wie es eine Spitzengenossin sagt, es nur noch wenige Politiker gebe, die so klar seien wie sie, „die nicht taktieren“. Die SPD brauche „keine tragischen Helden mehr, davon hatten wir genug“. Wer sich mit Parteifreunden wie politischen Gegnern unterhält, wird immer wieder ein Wort über Dreyer hören: glaubwürdig. Aus der FDP, mit der sie in Rheinland-Pfalz regiert, heißt es: Sie sei geduldig, schnell und präzise, könne hart führen, sei aber „fair und empathisch“.

Als Jamaika Ende November platzt und Neuwahlen im Raum stehen, wird es wieder enger für den Parteichef Schulz. Denn bei Neuwahlen hätte man überlegen müssen, wieder mit neuem Personal anzutreten. Die Genossen aber halten den Burgfrieden, stehen loyal zu Schulz. Doch egal, in welches Bundesland man geht, immer ist zu hören, dass die Basis gegen eine große Koalition sei. In Niedersachsen, sagt ein SPD-Mann, sei es in seinem Ortsverein bei einer Probeabstimmung 30:70 gegen eine Groko ausgegangen – allerdings vor Ende der Sondierungen. Am vergangenen Samstag dann spricht sich der Landesparteitag in Sachsen-Anhalt gegen eine neue große Koalition aus. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, Mitglied im Bundespräsidium der SPD, sagt dem Tagesspiegel am Sonntag, eine Fortführung der Koalition „ohne entscheidende Veränderungen“ überzeuge ihn noch nicht. Über Rheinland-Pfalz hat Malu Dreyer selbst gesagt, die Basis sei eher dagegen. Und sie hat den Sondierern, zu denen sie gehörte, öffentlich nahegelegt, „die große Skepsis der Basis zu registrieren“.

"Ein wahnsinniger Kraftakt"

Ganz wenige in der Partei haben ihr hinter vorgehaltener Hand unterstellt, dass sie nur aus taktischen Gründen für eine Minderheitsregierung votiert habe, um dann glaubhafter das Sondierungsergebnis vertreten zu können. Nach dem Motto: Wir waren ergebnisoffen, und nun gibt es eben noch bessere Gründe für eine Groko. Sie sagt, dass sie sich Jamaika wirklich gewünscht habe, weil sie davon überzeugt war, dass man in der Opposition andere Möglichkeiten gehabt hätte, um sich neu aufzustellen. Dreyer findet, dass es nach wie vor „gute Gründe für eine Minderheitsregierung“ gebe, etwa um die Unterscheidbarkeit der Volksparteien wieder deutlicher zu machen. Trotzdem sagt sie: „ Aber nach diesen Sondierungen bin ich optimistisch, dass wir, die SPD, etwas wirklich Gutes für die Menschen erreichen können.“ Dennoch werde man versuchen, in den Koalitionsverhandlungen Nachbesserungen zu erzielen.

Sorgen um ihre Partei macht sie sich aber schon auch, weil „das jetzt alles ein wahnsinniger Kraftakt ist, an dem die Partei nicht kaputtgehen darf“. Und weil es trotz einer möglichen Groko endlich einen Erneuerungsprozess geben müsse, den man 2009 und 2013 gefordert, aber nie umgesetzt habe. Anderseits sei dieser Kraftakt auch eine Chance, an der man Spaß haben könne.

Nicht nur die Jusos, auch einige aus dem Lager der Linken in der SPD trommeln gegen eine Groko und wollen in dieser Woche offensiv dagegen Stimmung machen. Überall im Land. Prominenz ist bisher nicht dabei. Trotzdem sagt eine hochrangige Sozialdemokratin, es müsse nur einer aus der Spitzenriege aufstehen und lediglich indirekt gegen eine Groko sprechen, „dann ist das Ding tot“.

Dreyer selbst will die ganze Sache nicht noch dramatischer aufladen, sondern auf eine Kernfrage reduzieren: Was bringt es der SPD? Sie vertraue darauf, dass die Basis sich mit Argumenten und Inhalten auseinandersetze. „Und ich würde mir wünschen, dass sie am Ende sagen: Dann geht mal in Koalitionsverhandlungen. Wenn es aber nicht so kommt, dann ist es eben so.“

Vielleicht liegt in dieser unaufgeregten Haltung, in der Verweigerung zum großen Politdrama, Dreyers größte Stärke. Sie verkrampft nicht, hat „gute Nerven“, wie ein Minister in Mainz sagt. Sie sei „nicht verbiegbar“, betont auch Natascha Kohnen, die neue Vize-Parteichefin, Vorsitzende der bayerischen SPD und deren Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im kommenden Oktober. Wenn man Dreyer selbst fragt, woher ihre erstaunliche Gelassenheit kommt, sagt sie, dass sie sich schon als junges Mädchen „innerlich frei“ gefühlt habe. „Ich habe grundsätzlich so ein Urvertrauen, dass schon etwas anderes kommt, wenn etwas nicht klappt.“

Superministerin unter Kurt Beck

Als sie 16 Jahre alt ist, geht sie für ein Jahr in die USA. Damals ist das noch eine große Sache: ohne Internet, Skype und günstige Telefonverbindungen. Es ist ein aufwühlender Abschied, alle heulen, nur sie nicht. Wenn Dreyer darüber spricht, woher Mut und Zuversicht kommen, erzählt sie diese Geschichte: Noch heute sehe sie sich die Treppe hinunter zum Ausgang laufen und dann hoch ins Flugzeug, als würde sie fröhlich hüpfen, sie habe eine unbeschreibliche Freiheit empfunden. Damals schon sei in ihr ein Gefühl gewachsen, dass ihr nichts passieren könne, dass sie alle Kraft der Welt habe.

Mit 34 Jahren erkrankt sie an Multipler Sklerose (MS), trotzdem wird sie eine Art Superministerin unter Kurt Beck mit den Themen Arbeit, Soziales, Gesundheit und Digitales. Bei der Landtagswahl 2016 liegt sie knapp vier Monate vor der Wahl bis zu zehn Prozentpunkten hinter ihrer Herausforderin Julia Klöckner. Auf der ledernen Rückbank ihrer schwarzen Dienstlimousine antwortet sie damals empört auf die Frage, ob sie bei einer Niederlage weitermachen würde: „Glauben Sie, ich bin abhängig von der Politik?“ Auf dem Landesparteitag ist sie die Einzige, die noch an einen Sieg glaubt, sie ist nicht nur Spitzenkandidatin, sondern auch oberste Mutmacherin für die, die sie eigentlich tragen sollen: „Ihr müsst kämpfen, alles geben. Nicht mehr dran denken, wie man sich fühlt, ob man kurz vor dem Zusammenbruch steht. Egal! Vollkommen egal.“

Als der Arzt die MS diagnostiziert hat, redet Malu Dreyer erst viele Jahre nicht öffentlich darüber, weil sie nicht darauf reduziert werden will. Ihr Vater leidet wiederum an Bluthochdruck, er stirbt völlig unerwartet, Dreyer hat keine Chance, sich von ihm zu verabschieden.

Solche Ereignisse im Leben haben sie gequält, weil sie ihr die Kontrolle nahmen und sie wütend machten. Heute ist ihr diese Kontrolle, absolute Professionalität im Berufsalltag, noch immer heilig. Aber in den großen Lebensfragen oder bei scheinbar grundsätzlichen Problemen kann sie viel besser loslassen.

Intriganter Politikbetrieb

Am Sonntag, als die vielen Spindoktoren der Parteien übers Wochenende das Sondierungsergebnis bewerteten, hat sich Malu Dreyer freigenommen. Schon am Freitagabend freut sie sich darauf wie ein kleines Mädchen. Ihr Mann hat Geburtstag. Endlich wieder den Tag in ihrem geliebten Schammatdorf in Trier mit ganz normalen Leuten verbringen! Hier leben unterschiedliche Menschen, Junge wie Alte, Singles und Familien, Behinderte und Nichtbehinderte in einem speziellen Wohnprojekt zusammen. Hier pflegte ihr heutiger Mann Klaus Jensen seine erste Frau, bis sie starb. Dreyer zog später zu ihm und blieb auch als Ministerpräsidentin dort wohnen. Jensen war nicht nur Trierer Oberbürgermeister, sondern auch lange Jahre Sozialpolitiker wie Dreyer selbst. Er war auch Landesbehindertenbeauftragter, berufliches Spezialgebiet: Sozialarbeit. Dreyers privates Umfeld, vor allem ihr Mann, sind ein Schlüssel, um zu verstehen, warum sie das alte Motto von Kurt Beck – nah’ bei de Leut – mehr als viele andere Politiker lebt.

Der Berliner Politikbetrieb ist schon eine ganz andere Welt – vor allem zu häufig eine intrigante. In den ersten Tagen der Sondierungen waren Dreyer und andere SPD-Sondierer „fassungslos über das Benehmen einiger Spitzenleute der Union“. Malu Dreyer will darüber nicht mehr reden. Hier im obersten Stockwerk der Landesvertretung von Rheinland-Pfalz schaut sie nun etwas zerknirscht aus dem großen Fenster hinaus in die Berliner Dunkelheit. Sie sieht jetzt sehr müde aus. Auf die letzte Frage, wie sie auf dem Parteitag am kommenden Sonntag neben den Sachargumenten die verunsicherte Basis denn emotional mitreißen will, antwortet sie nicht. Dann sagt sie trocken: „Es gibt mit der Union keinen emotionalen Moment.“

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