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Politik: Die Spuren ihrer Rettung

Sie nennen sich Holocaustkinder, keiner kennt ihre genaue Zahl. Man schmuggelte sie aus dem Warschauer Ghetto und versprach, sich um sie zu kümmern. Doch dann kam am 19. April 1943 der Aufstand – und die Kinder blieben in Familien, die nicht ihre waren. Bis heute für viele ein leidvolles Geheimnis

Teresa erfuhr Bruchteile der Wahrheit im Jahre 1948. Da traf sie, als sie gerade Essig kaufen ging, eine ehemalige Nachbarin ihrer Mutter auf der Straße, und die sagte zu ihr: „Teresa, was machst du noch hier? Die Kazimiera Ciarkowska ist ja gar nicht deine Mutter. Jüdin bist du. Sie suchen nach dir. Lass Kazimiera in Ruhe und geh’ mit den Deinen nach Israel.“ Teresa vergaß den Essig und lief schnell nach Hause. Sie war tief getroffen: Ihre Mutter war nicht ihre Mutter? Dazu sollte sie auch noch Jüdin sein, wo Jude zu sein die schlimmste Sache war, die einem Menschen passieren kann. Teresa rannte in die Küche zur Mutter. „Sag, dass du meine Mama bist!“, bat sie die Kazimiera. Und die setzte sich auf eine Kohlenkiste und atmete tief durch.

An diesem Tag hört Teresa ihren Vornamen. Pola, so soll sie heißen. So sagte der Mann, der sie fünf Jahre zuvor in einem Koffer aus dem Warschauer Ghetto durch den Betriebsbahnhof in die Stadt zu den Ciarkowskis gebracht hatte. In einem großen, gewöhnlichen Reisekoffer. Darin ein Mädchen mit zugeklebtem Mund, das schlief. Vielleicht hatte es eine Tablette bekommen. Das war so üblich, damit die Kinder unterwegs nicht aufwachten, zu weinen anfingen und auf Jiddisch Mutti riefen.

Der Mann mit dem Koffer sei gut gekleidet gewesen, erzählt Kazimiera. Er habe noch einen siebenjährigen Sohn, der auch gerettet werden müsste, sagte der Mann, der Junge sei aber beschnitten. Da bekamen die Ciarkowskis Angst. Der Mann ging zurück zum Ghetto. Jemand aus Polas Familie werde sich am nächsten Tag melden und das Mädchen abholen, sagte er noch. Doch am folgenden Tag kam niemand. Und als am 19. April 1943 die Kämpfe im Ghetto ausbrachen, wussten alle, dass niemand mehr kommen würde.

Warschau, Januar 2011. Teresa Wieczorek ist eine schicke, energische Dame. Blaue Augen, blondierte Haare. Ihr Armband passt zum taillierten Wollkleid. Ab und zu trommelt sie mit gepflegten, fein lackierten, roten Fingernägeln auf dem Tisch. Blättert etwas hektisch in dem Stapel von Dokumenten, Zeitungsausschnitten und Fotos auf dem Tisch. „Hier“, sie hält mehrere Blätter hoch, einen Brief in verschiedenen Sprachen, dessen Inhalt sie auswendig kennt.

„Ich bin als Kind im Koffer aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt worden“, zitiert sie, was sie damals schrieb, einen verzweifelten Aufschrei, einen verzweifelten Rettungsversuch: „Niemand kennt meinen Nachnamen, niemand weiß, woher ich komme. Vielleicht weiß jemand etwas über mich und meine Familie? Wer bin ich?“

Sie schrieb diesen Brief 1994, da war ihre Mutter Kazimiera schon tot, und sie legte Kopien eines alten schwarz-weißen Fotos bei, das zwei Mädchen zeigt, die Hand in Hand vor einem Zaun stehen. Eines ist etwa zehn Jahre alt, das andere, viel kleiner, vielleicht drei. Es ist das erste Foto, das Teresa von sich hat, es wurde aufgenommen, nachdem sie das Ghetto verlassen hatte. Brief und Bild schickte sie an Redaktionen in der ganzen Welt, zusammen mit der Hoffnung, etwas über ihr erstes Leben zu erfahren, das „vor dem Koffer“.

Die Medien meldeten sich, Zeitungen druckten ihre Geschichte, die dürren Daten und das Foto. Ein israelischer Sender drehte einen Dokumentarfilm über sie. Ein Mann aus Tel Aviv kam zu ihr nach Warschau. Er suchte seit Jahrzehnten nach seiner Nichte. Sie soll als Einzige in Warschau überlebt haben. Dann noch ein Offizier, der seine ganze Familie verloren hat und in ihr seine Schwester zu finden hoffte. Wieder eine falsche Spur.

Es waren so viele Verstecke gewesen, in denen Pola, bevor sie Teresa wurde, unterkam. Die Familie Osiejewski, deren Tochter neben ihr auf dem Foto steht, war die dritte Unterkunft. „Zuerst Ciarkowskis und Janus aus der Sierakowska-Straße, danach Osiejewskis in der Altstadt, dann eine andere Familie im Vorort Wesola.“ Von einem Ort ging es zu einem anderen. Oft blieb sie nur eine Woche lang in einem Versteck. Dass man sie als Verwandte zu Besuch vorstellen konnte, damit die Leute nicht fragten. Deutsche oder die Nachbarn. Zu riskant. An einige Menschen, sagt Teresa, könne sie sich immer noch erinnern. Über andere weiß sie gar nichts. „Alle diese Menschen halfen mir, zu überleben.“ Doch niemand wollte sie für immer haben. So landete sie wieder bei Ciarkowskis in Warschau, wo sie zu Teresa wurde.

„Pola, wir sind verwandt“, meldete sich einmal am Telefon ein Anrufer, dessen Familie seit Jahren nach einer Cousine suchte, einer kleinen Pola aus Warschau. „So lange haben wir nach dir gesucht!“ Alles schien ein gutes Ende zu nehmen. Eine Tante Lucia hatte Teresa auf einmal, die Schwester ihrer Mutter, und mehrere Cousinen. Doch das DNA-Analyse-Ergebnis bestätigte eine enge Verwandtschaft nicht. Die Familie von Tante Lucia – Teresa nennt sie immer noch so – brach den Kontakt ab. „Das Erlebnis war zu viel für mich“, ihre Stimme zittert wieder. „Ich werde nie wieder suchen. Ich muss mit Fragezeichen leben. Schluss.“ Sie packt die Papiere und Fotos zurück in eine durchsichtige Hülle.

Mehr als drei Millionen Juden lebten vor dem Krieg in Polen. Während der Nazi-Herrschaft sollten sie ausgelöscht werden: in Lagern erst ausgebeutet, dann erschossen. Als klar wurde, dass für Juden nur der Tod vorgesehen war, suchten sie nach Fluchtmöglichkeiten. Eine neue Identität mit gefälschten Papieren war eine davon. Chancen hatten diejenigen, die „das gute Aussehen“ hatten und die polnische Sprache akzentfrei sprachen, was in Polen, wo die Juden zum größten Teil nicht integriert waren, nicht immer der Fall war. Wer ihnen half, riskierte das eigene Leben, das seiner Familie, sogar noch das seiner Nachbarn. Kinder hatten es einfacher als Erwachsene, je jünger sie waren, umso besser. Sie passten sich an, lernten schneller, fielen weniger auf. Auch hatten die Menschen mehr Mitleid mit Kindern. Ihre Namen wurden geändert, oft zogen die Betreuer um, damit niemand bemerkte, dass plötzlich neue Kinder aufgetaucht waren. Die Kinder wurden entweder als eigene aufgenommen oder in Kinderheimen und Klöstern versteckt. So überlebten sie oft als Einzige aus ihren Familien. Die Holocaustkinder, so nennen sie sich selbst.

Als Teresa von ihnen erfuhr, wurde ihr Leben fortan zu einer pausenlosen Suche. Viele andere mit einem ähnlichen Schicksal wissen davon bis heute nichts, weshalb auch niemand sagen kann, wie viele Holocaustkinder es überhaupt gibt.

Auch Teresas Mutter, 1948 mit ihrer aufgeschreckten Tochter in der Küche sitzend, sagte, dass sie das Geheimnis lieber bewahrt hätte. „Ich wollte es dir nie sagen“, sagte Kazimiera. Und, wie aus Angst, Teresa könnte sie ablehnen, dass sie das Mädchen liebe wie eine Tochter. „,Nicht nur diejenige, die ein Kind geboren hat, ist Mutter, sondern auch diejenige, die es erzogen hat’, sagte sie mir“, die Worte hat Teresa gut im Gedächtnis.

Teresa bekam 1964 von ihrer Mutter den Taufschein, sie brauchte ihn zum Heiraten. „Am 7. Mai 1943 brachte Kazimierz Ciarkowski, Arbeiter, 33, ein Mädchen, geboren am 23. Dezember 1939 aus der Ehe mit Kazimiera, 44, um sie auf den Namen Teresa zu taufen. Die Schuld am verspäteten Taufen lag bei den Eltern.“ Es ist ein Taufschein aus der Salesianer-Basilika in Warschau. „Irgendwie musste man schon erklären, warum das Kind so lange ungetauft geblieben ist“, sagt Teresa. Und Taufen gehörte zum Retten des jüdischen Kindes dazu, nur getauft hatte es eine Chance. Sonst alles wie üblich. Das erfundene Geburtsdatum, Unterschriften der Pateneltern. Diese Dokumente hatten alle. Ältere Kinder lernten alle zudem Gebete, wurden monatelang vorbereitet, so dass sie – aus dem Schlaf gerissen – die Zehn Gebote fehlerfrei aufsagen konnten. Wieder andere Kinder bekamen die Scheine gleichaltriger Kinder, die gestorben waren.

Der Verlobte war es auch, dem sie als Erstem sagte, dass sie Jüdin ist. Für ihn sei das kein Problem gewesen, sagt Teresa. Doch der künftige Schwiegervater, vor dem Krieg ein erklärter Nationalist und Antisemit, hat sie nie akzeptiert. Ein adoptiertes, jüdisches Mädchen passte ihm als Schwiegertochter nicht. Das ließ er sie spüren, bis sie sich scheiden ließ. Und eine Freundin, der sie von ihrer jüdischen Herkunft erzählte, sagte: „Mir kannst du es verraten, aber sprich lieber mit niemandem sonst darüber.“ Die Lebensgeschichte einer jüdischen Tochter mit katholischer Mutter wollte sie nicht kennenlernen. „Darüber wurde einfach nicht gesprochen“, sagt Teresa. Also hörte sie mit dem Davon-Sprechen wieder auf. Suchte auch nicht weiter. Wie denn? Sie kannte ja keine Details.

Einmal zwang sie ihre Adoptivmutter, sie zum Jüdischen Historischen Institut zu begleiten. Kazimiera Ciarkowska sollte bezeugen, dass ihre Tochter Teresa Jüdin war. Sie machte das sehr ungern. „Ich habe keinen Groschen für dich genommen, habe dich geliebt und aufgezogen, und du willst zurück zu ihnen?“, fragte sie Teresa vorwurfsvoll. Teresa selbst konnte damals nicht verstehen, warum die Mutter ihr nicht helfen wollte. Dies warf für lange Zeit einen Schatten auf ihr Verhältnis. „Den Namen meines Vaters konnte sie vor dem Mitarbeiter des Instituts nicht nennen“, sagt Teresa. „Sie meinte, es sei ein schwieriger Name gewesen.“ Ihr Mann, Kazimierz Ciarkowski, soll mehr gewusst haben, aber er behielt es für sich und starb schon während des Krieges. Der Mann, der den Schmuggel durch den Betriebsbahnhof dokumentierte, wurde erschossen. Mit ihm gingen Dokumente aller Kinder verloren, die über diesen Weg gerettet wurden.

1990 änderte sich das Leben von Teresa noch einmal. Sie begann einen neuen Job in einem Büro für Kriegsveteranen. „Am ersten Tag mache ich die Schublade im Schreibtisch auf und finde eine Publikation mit dem Titel ,Veteran’. Auf der ersten Seite gab es einen Artikel über Holocaustkinder, über einen Verein, der in Polen gegründet werden soll.“ Sie las atemlos. „Es war so, als ob ich meine eigene Geschichte lesen würde.“ Sie war kein Einzelfall mehr. Es dauerte Monate, bis sie sich traute, sich bei dem Verein zu melden. Teresas Stimme wird noch heute brüchig, wenn sie darüber spricht. Tränen fließen über ihre Wangen, die Wimperntusche verläuft. Sie traf Dutzende von Menschen. Alle wurzellos, wie sie. „Ich konnte nicht glauben, dass es so viele von uns gab!“ Endlich hatte sie eine Familie.

700 Menschen sind im polnischen Verein der Holocaustkinder versammelt. Zwanzigmal so viele wie bei der Gründung im Jahre 1991. Ein Beleg dafür, dass die Adoptiveltern lange schwiegen, dass sie ihre Kinder schützen wollten, oder Angst hatten, sie zu verlieren. Manche Eltern sagen die Wahrheit erst auf ihrem Totenbett. Oder die Kinder finden, wenn sie nach dem Tod der Eltern deren Wohnungen auf- und ausräumen, irgendwelche Spuren. Es gibt sogar Menschen, die als Priester oder Nonnen erfuhren, dass sie Juden sind.

1994, im Jahr des Briefes, fuhr Teresa nach Israel. Sie ging zur Gedenkstätte Yad Vashem. Dort werden tagelang Namen der Kinder vorgelesen, die durch den Holocaust umkamen. Erinnert wird an die Vergessenen. Teresa schloss sich an. Drei Tage lang war sie dort, dann kam ihr ein Gedanke. „Mein Name könnte auch vorgelesen werden. Wer soll denn wissen, dass ich lebe?“

Immer wieder melden sich Holocaustkinder beim Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Erfahren im Alter von 60 oder 70, dass sie noch andere Familien hatten. Das sind nicht immer glückliche Momente. Wieder andere Holocaustkinder hätten es zwar gewusst, sagt Institutsmitarbeiter Yale Reisner, ein US-Amerikaner, sich aber lange nicht damit abfinden können. „Der Holocaust ist noch nicht vorbei“, sagt Reisner. „1945 waren die Morde zu Ende, doch seine Folgen ziehen sich über Jahrzehnte weiter.“

Und manchmal passiert auch ein Wunder. „Dann melden sich Leute, die das ganze Leben lang dachten, sie seien die einzigen Überlebenden aus der Familie, die fragen nach Dokumenten oder Fotos, um ihren Nachkommen etwas über früher zu erzählen. Wie vor kurzem ein Mann aus Australien. Und plötzlich kam eine fast identische Nachfrage aus Venezuela. Aus demselben Grund, von einem Mann, der auch überzeugt war, dass er der Einzige war. Nach über 60 Jahren fanden sich die Brüder wieder. „Keine Anfrage ist für uns abgeschlossen, solange sie ungeklärt bleibt“, sagt Reisner. „Bis wir den Menschen zumindest einen Bruchteil ihrer Identität zurückgeben können. Die Hoffnung hält lange.“

Teresa holt noch einmal zwei Blätter aus der Hülle, die sie schon weggelegt hatte. Eine Kopie aus dem alten Telefonbuch und den Auszug aus einem Ärzteverzeichnis der Vorkriegszeit. Vor einem Jahr, auf einem Treffen der Holocaustkinder, sagte ihr jemand, der auch in der Sierakowska-Straße lebte, er kenne ihre Geschichte. Polas Vater sei ein Arzt gewesen. Eine neue Spur. Vielleicht dieses Mal die richtige. „Ich bin wieder auf der Suche“, sagt Teresa.

Agnieszka Hreczuk[Warschau]

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