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Politik: Die Sündflut

Von Caroline Fetscher

Noah hatte Glück. Der Gott der Genesis sandte ihm eine Frühwarnung, „und als sieben Tage vergangen waren, kamen die Wasser der Sintflut auf Erden“. So erzählt es das Alte Testament. „An diesem Tag brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf“, steht da. „Die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden“, dass schließlich „alles, was Odem hatte auf dem Trockenen“ vertilgt wurde.

Allein Noah blieb übrig, und alle, die mit ihm auf der Arche waren. Im ersten großen Katastrophenbericht der Menschheit spiegelt sich das animistische Konzept einer rächenden Natur, deren Wüten zugleich Katharsis bedeutet, denn die Sündflut wusch die Sünden fort. Als an Weihnachten vor zwei Jahren ein Seebeben in Südostasien die Tsunami auslöste und 230 000 Menschen ihr Leben verloren, sah nicht nur der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland darin den Beweis, dass es die in der Bibel erwähnte Sintflut wirklich gegeben haben muss. Im Radio rief Bischof Huber zu Spenden auf, begleitet von dem Trost, ein guter Gott lasse solche Katastrophen nur zu, um uns dann wieder all seine Liebe und neue „Orientierung zu geben“. An ähnliche Versionen der Sündflut hielten sich nun im Medienzeitalter Millionen Bürgerinnen und Bürger. Abzulesen war das emotionale Nachbeben der Riesenwelle an den rekordhaften Summen, die auf Hilfskonten flossen.

Was uns widerfährt, muss ja einen Sinn ergeben, also sind wir auf dunkle Weise am Geschehen schuld, das glauben etwa Kinder, die misshandelt werden. Wer sich schuldig wähnt, will etwas wiedergutmachen – durch Buße, Wohlverhalten. So provozierte die Gewalt der gigantischen Welle eine überwältigende Spendenflut. Im Fernsehen sahen wir Amateurvideos überlebender Touristen, die vom Hotelbalkon aus filmten, wie Schlammmassen in die Ferienidylle einbrachen, und konnten uns identifizieren mit den Ferienreisenden, die in der Kluft zwischen Luxus und Desaster dasaßen, in denselben T-Shirts wie wir. Das hätte ich sein können, dachten wir, dankten fürs Verschontsein und beugten mit einer Ablasszahlung vor, um vorsichtshalber eine Kabine auf der Arche zu reservieren, falls der Sündenzahltag kommt.

Im Fernen Osten selbst sieht die Sache anders aus. Dort setzte beim Wiederaufbau unter den Eliten ein Kampf um Küste und Land ein, um Modernisierungsschübe und Ressourcenverteilung. Man stehe vor der Frage, ob die Aufbauprogramme dazu dienen, die Leute zu unterstützen oder sie zu unterdrücken, erklärte ein indischer Helfer der Organisation Tsunami Watch. Korruption und Unterschlagung gehörten zum Nachbeben am Schauplatz des Geschehens. All das hat uns Spender wenig interessiert. Wir hatten die Sündflut beantwortet.

Intensive Reaktionen auf medial vermittelte Großereignisse zu verurteilen ist allerdings so sinnlos, wie es ertragreich ist, sie als Symptome anzuerkennen. In solchen Emotionen offenbart sich ein Potenzial, eine Sehnsucht nach kollektiver Empathie, und es gilt vielmehr zu fragen, wie Aufklärung aussehen müsste, die uns das Dissonante an unserem Handeln deutlicher macht. Denn paradoxerweise verhält es sich ja so, dass wir jenseits der Sintflut, da, wo uns tatsächlich Schuld trifft, weil wir zu Protest oder Eingreifen fähig wären, es aber unterlassen, als Einzelne und Gesellschaften weitaus weniger bereit sind, uns von einer spektakulären Welle der Empathie ergreifen zu lassen. Den Angehörigen der 160 000 Toten aus Putins Tschetschenienkrieg, den Brüdern und Schwestern der 200 000 Ermordeten in Darfur galt bei uns bisher nicht der Bruchteil einer Aufmerksamkeit. Hier wird kein Ablass für die Arche gezahlt. Neben der Schuldfrage spielt nämlich als zentraler Faktor das Singuläre mit, überschaubar und tief beeindruckend: Die Große Welle, die Tote Prinzessin, das Weltmeister-Tor. Die Darfurkrise, der Krieg in Tschetschenien repräsentieren dagegen sich über lange Zeiträume hinziehende Unbill, ohne Märchen, ohne archaische Angstlust. Angemessene Reaktionen auf solche Szenarien fordern mehr von uns. Man braucht politische Analyse dazu, verbunden mit Empathie.

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