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Politik: „Die Täter wollen die Erde von allen Falschgläubigen reinigen“

New York, Casablanca und jetzt Madrid: Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze über die neue Generation der islamistischen Attentäter

Die Attentäter von Madrid haben offenbar Verbindungen zu den Attentätern von Casablanca. Dort hatte im Mai 2003 ein AlQaida-Emissär innerhalb kurzer Zeit 14 junge Männer aus dem Armenviertel Sidi Moumen für Selbstmordanschläge anwerben können. Was bedeutet das für Europas Zukunft?

In Casablanca wurden junge Leute angeworben, die aus einem sozial schwachen Milieu stammten und nur geringe Kenntnisse hatten über die innerislamischen politischen Diskussionen. Offensichtlich hat sich in den letzten zwei und drei Jahren eine neue islamistische Ideologie herausgebildet, die jetzt auch Leute mobilisieren kann, die sich bislang nicht mobilisieren ließen. Das ist sehr bedenklich.

Wie erklären Sie das?

Es handelt sich um ein neues Deutungsangebot für dieses spezifische soziale Milieu von Menschen, die praktisch keine Zukunftsperspektive haben. Sie machen sich nun die Vorstellung zu Eigen, ihr Leben sei allumfassend ein Dienst am Islam.

Welche innere Logik leitet diese jungen Männer?

Sie sind überzeugt, dass ihr Leben deckungsgleich ist mit dem Islam. Sie verstehen sich nicht als Subjekt von politischem Handeln, sondern sie interpretieren sich entsubjektiviert als Exekutive eines allgemein gültigen islamischen Willens. Sie ordnen sich selbst in einer existenziellen Weise dem Islam zu, als wären sie der Islam selbst. Eine solche Haltung ist typisch für Sekten und von außen sehr schwer nachvollziehbar.

Wissenschaftler sehen eine geistige Verbindung zwischen Al Qaida und der ägyptischen Muslimbruderschaft sowie dem ägyptischen Denker Sayyid Qutb. Wie lässt sich deren Vorstellung von der Erneuerung des Islam skizzieren?

Sayyid Qutb hat in den 60er Jahren eine Art militante Befreiungstheologie gepredigt – wie damals vielfach üblich. Man glaubte, dass über religiöse Normen eine soziale Befreiung möglich wäre. Qutb zielte auf einen islamischen Umsturz und eine Befreiung der Gesellschaft von staatlichen Institutionen. Er wollte den Islam als gültiges Normensystem etablieren, wodurch nach seiner Vorstellung soziale Gerechtigkeit und Freiheit entsteht. Qutb wurde in den 70er Jahren stark von den islamistischen Terrororganisationen in Ägypten rezipiert. Dann wurde es eine Zeit lang still um ihn. Jetzt taucht er wieder auf als Legitimationshintergrund von Al Qaida.

Doch diesmal nicht mit dem Blick auf den ägyptischen Staat, sondern auf die ganze Menschheit.

Heute geht es den Dschihadis nicht mehr um den Umsturz eines Staates, sondern um die Bekämpfung aller Verdorbenen – abgefallene Muslime, Juden, Christen und Ungläubige. Die Täter glauben, sie haben den Auftrag, den islamischen Willen umzusetzen, indem sie die Erde von allen Falschgläubigen reinigen.

Warum zählen dazu auch andere Muslime?

Für die Täter gibt es keine Unschuldigen. In ihrer Weltsicht gibt es nur die einen, die den wahren Islam umsetzen und die anderen, die das nicht tun. Diese anderen sind, auch wenn sie Muslime sind, die Gegner, gegen die vorgegangen werden muss. Das ist ein ganz einfaches bipolares Muster.

Wie passen in diesen Kontext die jungen Männer aus den Armenvierteln Marokkos, die sich als Attentäter anwerben lassen?

Sie wähnen sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft, die den Islam retten muss.

Nach welchen Kriterien wird der Selbstmord bei Attentaten eingesetzt?

Einige Jahre lang galt der Selbstmord sozusagen als Krönung der islamischen Existenz. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass diese Vorstellung nicht mehr überall handlungsleitend ist. Jetzt geht es nicht mehr primär darum, das eigene Leben in einer großen existenziellen Tat zu opfern. Daneben tritt die Vorstellung, dass man sein Leben aufhebt für eine weitere, neue Tat.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Deutung des Selbstmords als Freifahrtschein ins Paradies und der geringen Bildung der marokkanischen Täter?

Diese Menschen ziehen einzelne Schlüsselbegriffe der islamischen Tradition, wie die des Märtyrers, zur Lebensdeutung heran – und zwar in einer unglaublich simplen Weise. Das ist das eigentlich Überraschende der heutigen Entwicklung. Der ersten Generation der intellektuellen Dschihadis, wie Mohammed Atta, folgen jetzt in einer zweiten Phase Täter, deren Weltsicht nicht mehr durch eine intellektuelle Ausbildung geprägt ist.

Das Gespräch führte Martin Gehlen.

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