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 Der Tatort: Die Tankstelle in Idar-Oberstein

© REUTERS/Annkathrin Weiss

Mord wegen staatlicher Bevormundung?: Wenn ein verdrehtes Staatsverständnis explodiert

Der Staat soll schützen und Wohlstand bereitstellen. Gleichzeitig soll er in Ruhe lassen. Der Corona-Stress lässt Widersprüche kulminieren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Anerkennung und Respekt sind Schlüsselbegriffe der Gegenwart, auch im Wahlkampf. Allenthalben wird Anerkennung gefordert, für Leistungen und Lebenslagen, für Haltungen und Bedürfnisse. Völlig berechtigte Anliegen wetteifern dabei mit überspannten Ansprüchen. Mitunter vermengt sich beides zu einem wirren Cocktail.

Welche Affekte sich in dem 49-Jährigen zusammengebraut hatten, der am Samstagabend aus Wut über die Ermahnung, eine Schutzmaske zu tragen, einen jungen Kassierer an einer Tankstelle erschoss, wird sich mit der Zeit erst zeigen.

Der Täter habe, so zitiert ihn der Oberstaatsanwalt von Bad Kreuznach, sich von den Regeln zum Schutz vor Corona „in die Ecke gedrängt“ gefühlt.

In dem Angestellten habe er jemanden gesehen, der „verantwortlich für die Gesamtsituation“ sei. Er habe „keinen Ausweg“ gesehen, als „ein Zeichen zu setzen“. Mit solchen Aussagen begründen Attentäter, ganz gleich welche Motive sie treiben, häufig ihr Handeln.

Das Eskalationspotential ist enorm

Schon jetzt lässt sich das mörderische Ausrufezeichen des Mannes als ein Symptom der Gegenwart lesen, das alarmierend auf das Eskalationspotenzial unter anderem der „Querdenker“ weist. Deren Spannweite ist groß, sie reicht von harmlosen Homöopathie-Gläubigen und schrulligen Esoterikern bis zu zornbrodelnden Demokratiefeinden mit Generalgroll. Gemeinsam ist den meisten eine tiefe Ambivalenz, auf die sie allerdings gar kein Monopol besitzen.

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Pfeile der Klagen über die Gegenwart, nicht allein wegen Corona, fliegen in zweierlei Richtungen. Einerseits fühlen sich viele Leute „zu sehr gegängelt“, andererseits „zu sehr allein gelassen“. Einige, die früher den Freiheitsruf „Wir sind das Volk!“ anstimmten, sind zu verstimmten Reichsbürgern mutiert und siedeln jenseits der Realität.

Das sind die drastischsten Fälle. Doch auch so manche, die als unauffällige Bürgerinnen und Bürger gelten dürfen, legitimieren für sich private Regeln quer zu den sozialen. Weil ein Autofahrer schnell ans Ziel will, brettert er durch die Rettungsgasse. Da die Steuern „eh zu hoch“ seien, wird „etwas gemogelt“. Wo Polizei, Sanitäter oder Feuerwehr „im Weg sind“, wird gepöbelt.

Ambivalenz vibriert durch die typischen Aber-ich!-Beschwerden zu Staat, Behörden, Gesetzen und Regularien. Gegängelte beanspruchen mehr Freiheit, Alleingelassene mehr Beistand. Doch aus beiden Gruppen ertönen zwei Klänge: Der Staat soll uns schützen! Und zugleich: Der Staat soll uns in Ruhe lassen!

Auf das große, öffentliche Netz der Gesellschaft, auf die soziale Solidarität, wollen sich nämlich alle verlassen. Wasser und Strom, Straßen und Brücken, Schulen und Unis, Kliniken und Notarzt, Müllabfuhr und Bürgerämter – all das soll mir und den Meinen jederzeit möglichst umsonst oder günstig zur Verfügung stehen.

Zu ihrem Anspruch auf die zivilisatorische Grundversorgung, die hierzulande im weltweiten Vergleich auf allerhöchstem Niveau ist, hat die überwältigende Mehrheit durchaus kein ambivalentes Verhältnis, bei aller Kritik an Mängeln.

Solche Kritik ist legitim. Anerkennung muss aber auch die Demokratie selber für sich fordern, und zwar von uns allen. Wir bilden ihre Substanz. Respekt vor dem Nutzen des Rechtsstaats besser, klarer, klüger zu vermitteln wird in Zeiten des fundamentalen Wandels und der digitalen Feuerwerke aus Verschwörungsthesen zu einer Hauptaufgabe guter Politik.

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