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Vor dem Istanbuler Nachtklub Reina wird an die Opfer des Massakers erinnert. Dort hat vor wenigen Tagen ein Attentäter 39 Menschen ermordet.

© AFP

Update

Die Türkei nach dem Anschlag von Istanbul: „Die Angriffe schweißen uns zusammen“

Die Türkei reagiert mit der Verlängerung des Ausnahmezustands auf den Anschlag von Istanbul – und lässt den mutmaßlichen IS-Terroristen Iakhe Maschrapow aus Kirgisien jagen.

Ein rhetorisches Talent ist er nicht, anders als sein Auftraggeber und Mentor Recep Tayyip Erdogan. Doch als sich der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim am Dienstag mit seiner Brummelstimme durch die wöchentliche Ansprache vor der Parlamentsfraktion der Regierungspartei schleppt, von gravitätischen Pausen markiert und wie immer live übertragen auf allen Kanälen, da wird schnell klar: Präsident und Regierung lassen in der Stunde der Not die Muskeln spielen. Nach dem neuerlichen Terroranschlag in Istanbul demonstriert die politische Führung Entschlossenheit.

Am Dienstag billigte das Parlament in Ankara die weitere Verlängerung des Ausnahmezustands um drei Monate. Für nächsten Montag ist nun die Abstimmung über die Erdogan-Verfassung angesetzt. Die geplante Einführung einer Präsidialherrschaft ohne Ministerpräsident und mit geschwächtem Parlament muss dann noch im Frühjahr vom Volk in einem Referendum angenommen werden. Yildirim liefert für alles ein Argument.

Kein anderes Land der Welt stehe in diesem Augenblick gleichzeitig im Kampf gegen so viele Terrororganisationen, sagt Yildirim vor seinen Abgeordneten. Trotzig erklärt er: „Diese niederträchtigen Angriffe schweißen uns als Nation nur noch stärker zusammen.“

Nach Yildirim ist die Reihe am Innenminister. Süleyman Soylu verteidigt im Parlament seine Bilanz angesichts der Terrorserie im Land, die nicht enden will. Die Zahlen purzeln während seiner Rede – festgenommene Gülenisten, die den Staat unterwandert haben sollen, getötete Terroristen der PKK, vereitelte Anschläge der Islamisten des „Islamischen Staats“. 339 „gravierende Fälle“ haben Polizei und Geheimdienst im vergangenen Jahr verhindert, sagt Soylu. Also fast jeden Tag einen Terroranschlag.

Während der Minister spricht, läuft mit Hochdruck die Fahndung nach dem mutmaßlichen Attentäter. Iakhe Maschrapow soll er heißen. Die Polizei machte am Morgen den Namen des 28 Jahre alten kirgisischen Staatsbürgers öffentlich. Maschrapow, offenkundig ein Mitglied der Terrormiliz „Islamischer Staat“, erschoss in der Neujahrsnacht 39 Menschen im Istanbuler Nachtklub Reina. 32 Verletzte wurden am Dienstag noch in Krankenhäusern behandelt. Seinen Pass ließ der Terrorist aus Zentralasien in einer Jacke am Tatort zurück. Panik oder Hochmut gegenüber den Fahndern, die ihn nun jagen?

Der mutmaßliche Attentäter soll am 20. November mit seiner Familie eingereist sein

Hausbewohner erkennen schnell den Kirgisen und melden sich bei der Polizei, als am Montag die ersten klareren Porträtaufnahmen verbreitet werden. Ein „Uygur Türkü“ sei er, so heißt es zunächst, ein Angehöriger der turkstämmigen Minderheit der Uiguren aus der chinesischen Provinz Xinjiang. Die Polizei macht nach Hinweisen die Wohnung des mutmaßlichen Attentäters Maschrapow ausfindig und nimmt sofort die Familie zum Verhör mit.

Am 20. November sollen die Maschrapows aus Kirgisistan kommend auf dem Flughafen in Istanbul gelandet sein. Zwei Tage später, so sagt die Ehefrau aus, fährt die Familie, die Eheleute und zwei Kinder, nach Konya, einer erzkonservativen Großstadt in Zentralanatolien, und mietet eine Wohnung an. Iakhe Maschrapow wollte dort angeblich Arbeit finden. Sie habe nicht gewusst, dass ihr Mann beim IS sei, gibt die Frau bei der Vernehmung an.

Fahndungsfoto: Mit diesem Bild suchen die Behörden nach dem Verdächtigen.
Fahndungsfoto: Mit diesem Bild suchen die Behörden nach dem Verdächtigen.

© dpa

Sicherheitsexperten und Kolumnisten türkischer Medien mit Zugang zu den Ermittlern zeichnen ein anderes Profil: Maschrapow sei ein professioneller Terrorist, ausgebildet im Bürgerkrieg in Syrien. Am 29. Dezember fährt der Kirgise im Autobus nach Istanbul. Eine IS-Zelle im Stadtviertel Zeytinburnu, im Westen Istanbuls, hilft ihm weiter wie zuvor schon ein Netzwerk der Terrormiliz in Konya. In den Tagen vor dem Anschlag nimmt Maschrapow mit dem Mobiltelefon auf dem Taksim-Platz ein Video von sich selbst auf, ein tumbes Selfie. Auch hier rätseln die türkischen Ermittler angeblich noch: War es die Selbstbespiegelung eines Attentäters oder für die IS-Propaganda nach dem Terrorakt?

17.000 Polizisten sind in der Neujahrsnacht im Zentrum von Istanbul im Einsatz, vor allem am Taksim-Platz und der angrenzenden Istiklal-Straße, der langen Einkaufsmeile. Der Nobel-Nachtklub Reina ist trotz Terrorwarnungen praktisch ungeschützt, wie Mehmet Koçarslan, der Besitzer, nun immer wieder kritisiert. Als die Polizei am Tatort eintrifft, ist Maschrapow geflüchtet.

Mit einem Taxi war er eine Stunde lang von Zeytinburnu zum Nachtklub am Bosporus gefahren, die Kalaschnikow in einer Tasche versteckt. Den Fahrer bat er um ein Telefon, zwölf lokale Verbindungen soll der Attentäter damit gewählt haben. Für die Polizei ergibt das ein Netz von Kontakten. 16 Verdächtige nimmt sie fest, zwei davon am Atatürk-Flughafen in Istanbul. Doch Iakhe Maschrapow bleibt weiter verschwunden.

Sein Anschlag, dem wohlhabende Klubbesucher zum Opfer fallen, löst in den sozialen Medien in der Türkei auch gehässige Reaktionen gläubiger Muslime aus. Binali Yildirim spricht vor den Parlamentariern von „hetzerischen“ Äußerungen.

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