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Politik: Die Türkei streitet über Rolle des Islam an Schulen

Die Militärdiktatur hatte religiöse Bildungseinrichtungen verdrängt – Erdogans Reform integriert sie jetzt ins Bildungssystem.

Istanbul - Die langen Sommerferien sind vorbei, in der Türkei hat für rund 17 Millionen Schüler das neue Schuljahr begonnen. Doch das Ende der Ferien ist nicht der Grund dafür, dass Sidar Kardogan gleich nach Schulstart auf der Straße ist, um zu protestieren. Zusammen mit einigen Freunden verteilt der 16-jährige Gymnasiast auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im Herzen von Istanbul selbst gedruckte Handzettel, an einem Infostand klebt ein Poster mit dem Bild von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Parolen gegen die Bildungspolitik von Erdogans Regierungspartei AKP. „Schlecht für die Türkei“ sei das, was die AKP da treibe, sagt der Schüler.

Kardogan steht mit seiner Kritik nicht allein. Den Schulstart vergangene Woche begleiteten wütende Proteste der Opposition in Ankara: Erdogans Regierung hat ein neues Schulsystem in Kraft gesetzt, das nach Meinung der AKP-Gegner eine islamistische Gehirnwäsche von Millionen von Kindern einleitet.

„4+4+4“ lautet die Kurzformel der Schulreform: Zwölf Jahre Schulpflicht – vier Jahre Grundschule, gefolgt von vier Jahren Mittelschule und vier Jahren Oberschule – werden der aufstrebenden Regional- und Wirtschaftsmacht Türkei gut ausgebildete Arbeiter, Ingenieure und Akademiker verschaffen, argumentiert die Regierung. Dass das bisherige Schulsystem mit acht Jahren Schulpflicht unzureichend war, ist weitgehend Konsens im Land. Das alte System war 1997 von den Militärs entworfen worden, vor allem mit der Absicht, den Einfluss religiöser Schulen zurückzudrängen.

Jetzt sind die Islam-Schulen wieder da, und genau das macht den Kritikern die meisten Sorgen. Die sogenannten Imam-Hatip-Schulen waren ursprünglich für die Ausbildung islamischer Geistlicher gedacht, sind aber seit langem in konservativen Kreisen als allgemeinbildende Schulen sehr beliebt. Auch Erdogan selbst ist Absolvent einer solchen Schule, ohne jemals Prediger gewesen zu sein. Im Schuljahr 2010/2011 besuchten mehr Mädchen als Jungen die religiösen Schulen – obwohl es in der Türkei so gut wie keine weiblichen islamischen Geistlichen gibt. Die Militärs hatten die Imam-Hatip-Schulen an den Rand gedrängt – Erdogan hat sie jetzt rehabilitiert. Ein Oppositionspolitiker sprach von einem Angriff auf die säkularen Werte der Republik.

Von den Zahlen her scheint dieser Vorwurf absurd: Nur 236 000 der fast fünf Millionen Mittel- und Oberschüler in der Türkei besuchten im vergangenen Jahr eine Imam-Hatip-Schule. Doch der Anteil der Imam-Schulen steige seit Jahren und werde durch Erdogans Reform jetzt noch stärker nach oben schnellen, sagen die Kritiker. Erstmals seit 1997 dürfen sie wieder als Mittelschulen tätig sein, stehen also ab sofort für Kinder ab elf Jahren bis zum Abitur bereit. Auch die Armee lässt ab sofort Imam-Hatip-Absolventen zur höheren Offizierslaufbahn zu.

Wegen der starken Nachfrage wurden bereits einige normale Schulen in Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Gleichzeitig bieten staatliche Mittelschulen erstmals Korankurse und Unterricht zum Leben des Propheten als Wahlfächer an. Die Reform gebe der Regierung die Möglichkeit, „alle Schulen zu Imam-Hatip-Schulen zu machen“, freute sich ein Abgeordneter der Erdogan-Partei öffentlich. Der Ministerpräsident selbst verkündete, die Predigerschulen kehrten „zu ihren goldenen Zeiten zurück“.

Andere Aspekte der Bildungsreform gehen im Streit um die angebliche Islamisierung unter. So können Kinder der Mittelstufe in staatlichen türkischen Schulen erstmals Kurse in einem Wahlfach Kurdisch belegen. Diese Geste an die rund zwölf Millionen Kurden im Land geht kurdischen Politikern allerdings nicht weit genug: Sie verlangen, kurdische Kinder müssten Kurdisch gleich in der Grundschule als Muttersprache lernen – anstelle von Türkisch. Thomas Seibert

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