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Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, präsentiert sich als starker Mann im Nahen Osten.

© picture alliance / dpa

Die Türkei unter Erdogan: Unsere neue deutsch-türkische Sprachlosigkeit

Die Politik des türkischen Staatspräsidenten Erdogan spaltet sein Land. Unsere Autorin Hatice Akyün beschreibt, was das mit ihrer Familie anrichtet. Ein Essay.

Ein Essay von Hatice Akyün

Als ich vergangene Woche meinen Vater anrief, spürte ich, dass unser Gespräch diesmal anders sein würde. Den ganzen Tag schlich ich um das Telefon, nahm es in die Hand und tippte auswendig seine Nummer in die Tastatur. Dann drückte ich sie wieder weg. Zuletzt sprachen wir am Zuckerfest miteinander, drei Wochen ist das her. Ich konnte nicht noch länger so tun, als sei nichts geschehen. Wir wichen uns aus, redeten über das Wetter, wechselhaft in Deutschland, brütend heiß in der Türkei. Er fragte mich, wie es seiner Enkeltochter gehe und ob wir im Herbst kämen. „Gut“, antwortete ich und dass wir in diesem Jahr nicht kommen würden. Er spricht es nicht an. Ich auch nicht. Wahrscheinlich will er mich beschützen. Ich könnte es nicht dabei belassen, wenn er sagen würde: „Tochter, du hast deine Meinung und ich meine.“ Das weiß er. So plätschern unsere Worte dahin. Nur meine Mutter unterbricht uns aus dem Hintergrund. Sie ruft: „Sie soll den Deutschen sagen, dass diese Terroristen unsere Soldaten töten. Sag ihr, sie soll das schreiben.“

Noch nie ist mein Vater mir eine Antwort schuldig geblieben. Seine Weisheit, seine Weitsicht, seine Güte haben mir schon oft Orientierung gegeben. „Tochter, du kannst nicht die ganze Welt retten“, hat er manchmal gesagt, wenn auch er keine Antwort mehr wusste.

Ein Gift nagt an unseren Beziehungen

„Frieden im Land, Frieden in der Welt.“ Dieser Satz ist von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik. Früher musste ich immer lachen über die Banalität dieser Worte. Jeder Familienkrach wurde bei uns ironisch mit diesem Satz beendet. Nein, dass dieser Satz nicht banal ist, sondern tragend, das lerne ich in diesen Tagen schmerzhaft. So sehr, dass es mir schwer fällt, mich bei meiner Familie zu melden, weil sie Dinge sagen könnte, die ich nicht hören möchte. Ein Gift nagt an unseren Beziehungen.

Mit meiner Schwester habe ich zuletzt nach der Parlamentswahl Anfang Juni gesprochen. Die AKP verlor die absolute Mehrheit und Recep Tayyip Erdogans Traum, ein Präsidialsystem einzuführen, scheiterte vorerst. Die AKP hat viele Stimmen an die prokurdische Partei HDP verloren, die mit dreizehn Prozent ins Parlament einzog. Selahattin Demirtas, Vorsitzender der HDP, ist so etwas wie der kurdische Obama – smart, witzig, gutaussehend und nie um Worte verlegen, wenn er von einer modernen und demokratischen Türkei spricht. Die HDP hat die Zehn-Prozent-Hürde auch geschafft, weil viele Nichtkurden ihn in der Hoffnung wählten, er könnte Erdogan stoppen. Ich habe mich auch gefreut. Meine Schwester meinte, ich hätte keine Ahnung von der Türkei, ob ich vergessen hätte, dass die PKK für den Tod von Tausenden Menschen verantwortlich sei. „Die Kurden“, sagte sie, „sind nicht alle Demirtas.“ Meinen Einwand, dass die HDP nicht die PKK sei, wischte sie weg.

Während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 deutete sich schon an, dass ein politischer Bruch durch unsere Familie gehen würde. Meine Schwester ist so konservativ-bürgerlich, dass sie Vorsitzende der CSU werden könnte, die Hälfte meiner Verwandtschaft stramme AKP-Anhänger. Als die Demonstranten auf dem Taksim-Platz mit Wasserwerfern und Tränengas beschossen wurden, meinte mein Cousin, das seien Terroristen und Provokateure, die das Land spalten wollten. Und meine Schwester ermahnte mich, meine journalistische Pflicht zu erfüllen, und über das Unrecht zu berichten. Mein Cousin erzählt stolz vom Wohlstand, den nur Erdogan gebracht hätte. Dann zählt er auf: „Autobahnen, Metro, der größte Flughafen der Welt, Rente und Krankenversicherung für jeden. Was hat die CHP je für uns gemacht?“, fragt er mich. Eine rhetorische Frage. Das ist das Ergebnis jahrelanger Medienmanipulation durch die AKP, gepaart mit der Charaktereigenschaft vieler Türken, in allem, was ihnen nicht in den Kram passt, eine Verschwörung zu sehen. Die politischen Gräben, die sich durch die ganze Türkei ziehen, verlaufen auch durch die Familien. Erdogan beherrscht es wie kein anderer, die Lager zu instrumentalisieren. Wer nützlich ist, wird gefördert, wer im Weg steht, wird offen bekämpft.

Politik wird in der Türkei mit Leidenschaft, aber unter Vernachlässigung der Vernunft betrieben. Man schart sich um seine Führer, die das Denken übernehmen. In Deutschland ist nicht alles besser, auch hier gibt es Absprachen und Geklüngel, doch auf Dauer kann nicht verhindert werden, dass sich aufrechte Demokraten organisieren. Es gibt Meinungsbildungsprozesse, Debatten und Streitkultur. Politikebenen kontrollieren sich wechselseitig, keiner herrscht allein. Ganz anders in der Türkei: The winner takes it all. Parteien sind Wahlvereine und gruppieren sich um Machtzentren, damit die Interessen bedient werden können, die einem zur Macht verholfen haben.

Wo bleibt das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit?

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, präsentiert sich als starker Mann im Nahen Osten.
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, präsentiert sich als starker Mann im Nahen Osten.

© picture alliance / dpa

Am 20. Juli 2015 endete die Hoffnung, dass die Türkei ein Land werden könnte, das meinem Demokratieverständnis entspricht. In der südostanatolischen Stadt Suruç, zehn Kilometer von der syrischen Grenze, zündete ein 20-jähriger Student, über den sein Vater sagt, er hätte nicht einmal einer Ameise wehtun können, eine Bombe und riss 32 Menschen mit in den Tod. Die Opfer waren keine Terroristen, keine IS-Anhänger, die meisten von ihnen nicht einmal Kurden. Es waren Studenten aus Ankara, aus Istanbul und Izmir, die mit Spielsachen und Büchern angereist waren. Junge Menschen, die Jura studierten oder Medizin, Kunst und Philosophie, Grundschullehrerinnen und Ärzte aus der türkischen Mittel- und Bildungsschicht. Menschen, die die Türkei so dringend benötigt, um das Land zu werden, auf das ich irgendwann hätte stolz sein können.

Ergebnis einer zensierten Berichterstattung

Es ist in diesen Tagen nicht einfach, halbwegs objektiv zu bleiben. Türkische Medien berichten kaum oder nur aus einer Perspektive. Das allein ist schon eine bemerkenswerte Ungleichheit der öffentlichen Meinung, da in den ländlich geprägten Regionen lange niemand mitbekommt, was in den Großstädten los ist. Das Ergebnis dieser zensierten Berichterstattung ist, dass viele kein Bedürfnis mehr haben, zu hinterfragen. Wozu auch? Hauptsache das Weltbild ist in sich geschlossen, ohne Widerspruch und möglichst einfach nachzuvollziehen. Anderen, die sich nicht auf die staatlichen Fernsehanstalten verlassen möchten, bleibt nichts anderes übrig, als sich über die sozialen Medien wie Twitter und Facebook auszutauschen. Das weiß auch die Regierung. Man kann die Uhr danach stellen, wann sie diese Informationsplattformen abstellen lässt. Eigentlich ein Zustand, den man sonst nur aus den Ländern kennt, die ihre Regierung nicht frei wählen dürfen.

Vom Anschlag in Suruç erfuhr ich von meiner Freundin in Istanbul. Sie schrieb mir auf Facebook, ich solle auf Twitter den Hashtag „Suructaatliamvar“, Blutbad in Suruç, eingeben, dort könne ich alles verfolgen. Sie meinte blutige Bilder von Toten, die mich bis heute nicht loslassen und Sätze von Angehörigen, die ich nicht mehr vergessen werde: „Fotos von auseinandergerissenen Körpern werden veröffentlicht. Ob ich die Stücke des Mannes wiedererkenne, den ich geliebt habe? Wie konntet ihr uns das antun?“

Man muss höllisch aufpassen, gut recherchierter Journalismus findet sich in den sozialen Medien nicht durchweg. Gerüchte, Falschmeldungen, Interpretationen anstatt harter Belege, Vermutungen und die Bestätigung von Feindbildern treffen hier auf authentische Berichte und unter Risiken eingeholte Fakten.

Wie viel Heimatgefühl kann man noch für ein Land empfinden, in dem Menschen, die helfen wollen, zerfetzt werden? Ein Land, in dem sich niemand mehr darüber zu wundern scheint, dass wieder und wieder eine Regierung gewählt wird, die Schuhkartons mit Geld wegschafft, kritische Staatsanwälte und Richter versetzt, unangepasste Journalisten einsperrt. Wo bleibt das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit? „Gerechtigkeit macht nicht satt“, sagt meine Schwester. Den meisten Menschen ging es tatsächlich wirtschaftlich noch nie besser als unter Erdogan. Noch blüht die Scheinblüte. Ein Kioskbesitzer in Kasimpasa, jenem Stadtteil, in dem Erdogan aufgewachsen ist, erklärte mir einmal: „Was brauche ich Pressefreiheit, wenn ich nicht genug Geld habe, mir eine Zeitung zu kaufen?“ So sehr viele Türken über die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheiten schimpfen: aus Angst, den Behörden aufzufallen, schweigen sie lieber. Man erkauft sich einen Scheinwohlstand durch den Beitritt in die Schweigespirale. Und diejenigen, die im Sommer 2013 nicht geschwiegen haben, sind müde vom Aufbegehren gegen eine Regierung, die sie immer wieder niederknüppelt, anstatt ihnen zuzuhören. 32 von ihnen sind jetzt tot.

So tun, als ob - das beherrschen Türken bis zur Pefektion

Sozialer Status ist für Türken ein Ausdruck ihres Wertes. Sprache, Bildungsniveau, Kleidung, Umgang und persönliche Beziehungen dienen als Abgrenzung gegen die anderen, die es nicht soweit gebracht haben. Auch diesen Umstand hat sich Erdogan zu Nutze gemacht. Eine schleichende Islamisierung mit Kopftuch, Religionsschulen, Verbannung von Alkohol wird im Westen zwar mit Kopfschütteln wahrgenommen, die Wahrheit ist aber eine andere. Die Türken wurden nicht in Scharen religiös und Antialkoholiker, sie passten sich nur an, um weiter so leben zu können, wie sie es wollen. Aber das macht sie angreifbar, deshalb sind sie still. Meine Freundin in Istanbul geht in Clubs am Bosporus, trinkt Alkohol, aber wenn sie mit ihrem Auto nach Hause fährt, setzt sie sich ein Kopftuch auf. So kann sie sicher sein, dass sie bei der Polizeikontrolle durchgewunken wird. So tun, als ob – eine Disziplin, die Türken bis zur Perfektion beherrschen.

Ein Teil in mir verstummt immer mehr

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, präsentiert sich als starker Mann im Nahen Osten.
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, präsentiert sich als starker Mann im Nahen Osten.

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Erdogan hat kein außenpolitisches Profil, und wenn er eines hatte, dann hat er es jetzt verspielt. Eine robuste Demokratie mit der Trennung von Religion und Staat hätte ein Modell für die islamische Welt werden können, doch sein Protagonist mochte seine eigene Idee irgendwann selbst nicht mehr. Er hat den IS an seiner Brust genährt. Jetzt gebärdet er sich als Garant für Sicherheit, indem er Unsicherheit produziert. Waren die Kurden als Mehrheitsbeschaffer der AKP gerne gesehen und gab es sogar die Hoffnung auf Frieden, so holt er nun den Geist des Terrorismus wieder aus der Flasche. Er kriminalisiert die HDP, indem er deren Abgeordnete in die Nähe der PKK rückt. Ein kalkulierter Preis eines Herrschers, der einen Feind braucht, um an der Macht bleiben zu können. Wohin führt es, wenn sogar meine intellektuellen, gebildeten türkischen und kurdischen Freunde, die in Deutschland aufgewachsen sind, wieder von Türken gegen Kurden, Kurden gegen Türken reden?

„Wie kannst du eine Terroristen-Partei unterstützen?“

Ich bin keine Kurdin, keine Schiitin, auch keine Alevitin, ich gehöre zu keiner der Gruppen, die Erdogan besonders gerne benutzt, um zu hetzen. Meine Familie gehört zu den Sunniten, Erdogans Lieblings-Muslime. „Wie kannst du eine Terroristen-Partei unterstützen?“, fragt meine Freundin in Istanbul, die während der Gezi-Proteste noch in der ersten Reihe stand, um für Demokratie und Toleranz zu demonstrieren. „Demirtas macht mir Hoffnung auf eine Türkei, wie ich sie mir wünsche“, habe ich geantwortet. Er reagiert besonnen, wenn Erdogan ihn mit rhetorischen Giftpfeilen beschießt. Einmal sagte der Präsident öffentlich, dass Demirtas’ Bruder in den Bergen aufgewachsen sei und noch immer dort lebe, dass Demirtas von dort seine Anweisungen bekäme und wenn er könnte, zu ihm auf den Berg laufen würde. Demirtas antwortete ihm: „Wenn ich glauben würde, dass die Berge die Lösung sind, wäre ich längst dort. In die Berge zu gehen, ist nicht schwer. Schwer ist es, mich hier mit Ihnen von Angesicht zu Angesicht auseinandersetzen zu müssen. Wir haben den schwereren Weg gewählt.“

Man muss wissen, wo man herkommt, damit man weiß, wo man hinwill. Doch wo es bei anderen eine einzige innere Stimme gibt, die einem hilft zu bestimmen, wohin man gehören will und wohin nicht, ist es bei mir ein ganzer Chor, der wild durcheinander singt. Doch der eine Teil in mir verstummt immer mehr. Heimat ist ein emotional aufgeladener Bezugspunkt, aus dem heraus man sich definiert. So kann ich für mich sagen, dass Heimat etwas ist, das mich geprägt hat. Auch in meiner Heimat passieren Dinge, die mich wütend machen, aber ich kann ihnen auf den Grund gehen oder es zumindest versuchen. Ich fühlte mich immer als Botschafterin beider Länder, mal als türkische, mal als deutsche. Die türkische Sicht ist zwischen Tränengas und Wasserwerfen, zwischen Bomben und sinnlosem Töten irgendwann verloren gegangen. Wie vermutlich viele Kinder türkischer Eltern und Großeltern in Deutschland sind wir mittlerweile so bundesrepublikanisch, dass wir unser Politikverständnis auf die Türkei übertragen, was die Diskrepanz noch größer macht, als sie von innen heraus zu erleben.

Der Blick meines Vaters auf die Dinge gab mir Orientierung. Was ich mühsam versuchte zu verstehen, hat er oft mit einem Satz auf den Punkt gebracht. Ich habe nicht den Mut, ihn jetzt nach diesem Satz zu fragen. Ich habe Angst, dass er mir diesmal nicht gefällt. Und während ich seine Nummer in die Tastatur drücke, stelle ich mir nur vor, was er sagen könnte, um mir ein wenig Halt zu geben.

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