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Politik: Die Welt hört zu

Von Moritz Döbler

Wenn sich heute 2000 der mächtigsten Menschen der Welt in Davos einfinden, stoßen sie auf ein Problem. Oder eine Herausforderung, wie moderne Manager und Politiker ja gerne sagen. „The Creative Imperative“ ist das Weltwirtschaftsforum am Fuße des Zauberbergs in diesem Jahr überschrieben. Was in einem amerikanischen Unternehmensgründerhandbuch eine gute Überschrift abgäbe, klingt auf Deutsch sperrig und rätselhaft. Der kreative Imperativ? Gemeint ist wohl, dass wir alle gezwungen sind, kreativ zu sein, um in der Welt von morgen zu bestehen.

Eine wohlfeile Einsicht, der niemand widerspricht. Was aber heißt kreativ in Bezug auf die Probleme – Verzeihung, die Herausforderungen – der Welt? Oder anders gefragt: Ist wirklich ein Mangel an Kreativität schuld daran, dass wir, um nur einige Beispiele zu nennen, Aids und Hunger in Afrika, die Gewalt in Nahost oder die allmähliche Zerstörung unserer Umwelt nicht in den Griff bekommen?

Denn es war ja kreativ, was etwa Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac vor einem Jahr in Davos vorschlug. 50 Milliarden Dollar pro Jahr, rund drei Prozent des globalen Wirtschaftswachstums, wollte er von der Welt zusätzlich für Entwicklungshilfe mobilisieren. Die Überweisungen an die armen Länder wollte er verdoppeln. Und er nannte Instrumente: Mit einem Zehntelpromille wollte er internationale Finanztransaktionen besteuern, einen Dollar von dem Erlös eines jeden Flugtickets eintreiben und Abgaben auf Luftverkehr und Schifffahrt erheben.

Noch in Davos gab es viel Zustimmung, auch vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder. Die Idee gewann rasant an Fahrt, mündete in das globale Konzertspektakel „Live 8“ von Bob Geldof, das Milliarden Zuschauer vor die Fernseher holte. Der Erdball schrumpfte, wir alle gehörten dazu, als Bono, Madonna, Elton John und Robbie Williams sangen. Sogar Pink Floyd spielte wieder zusammen!

In Berlin stand die deutsche Musikszene von BAP über Grönemeyer bis zu den Söhnen Mannheims vor der Siegessäule auf der Bühne. Globalisierungskritik wurde Mainstream. Und schließlich beschlossen die Führer der acht wichtigsten Industrienationen der Welt auf Schloss Gleneagles, die Entwicklungshilfe tatsächlich bis 2010 um 50 Milliarden Dollar jährlich aufzustocken. Dass man sich über die Finanzierung nicht einigte, dass der Beschluss unverbindlich blieb, machte den britischen Premier und Gastgeber Tony Blair nachdenklich: „All das verändert die Welt nicht bis morgen, es ist ein Anfang, nicht das Ende.“

Für eine Bilanz des „Live 8“-Jahres ist es zu früh. Aber man ahnt, dass Afrika von der Euphorie, den bunten Bildern und Klängen in ein paar Jahren wenig gehabt haben wird. Vielleicht gar nichts. Ist das der kreative Imperativ? Zählt nur die Pose und nicht das Ergebnis? Ist am Ende alles nur PR? Das wäre viel zu wenig.

Denn der Begriff des kreativen Imperativs legt die Messlatte hoch. Wenn er die Welt so prägen sollte, wie es der kategorische Imperativ tat, dann haben die Davos-Teilnehmer viel vor sich. „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Das ist der historische Imperativ, den Immanuel Kant vor 220 Jahren niedergeschrieben hat. Oder: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.

Aber es ging Kant eben nicht darum, uns allen Vorschriften zu machen. Für ihn beschrieb der kategorische Imperativ die Grundlage jeglicher praktischen Vernunft. Und deswegen gilt der Satz absolut, immer, überall und eben auch für die heutigen Probleme der Welt. Soll es zum Beispiel ein allgemeines Gesetz sein, dass die Menschen immer mehr Energie verbrauchen, dass sie darüber Kriege führen und das ökologische Gleichgewicht zerstören? Nein, das wäre unvernünftig. Was folgt daraus für das Handeln einer Regierung oder eines Unternehmens?

Es ist Kanzlerin Angela Merkel, von der heute in Davos Antworten erwartet werden. Nach Blair und Chirac vor einem Jahr hält sie die Eröffnungsrede. Die Welt hört ihr zu. Das ist – eine Herausforderung.

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