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Durch das Feuer im Flüchtlingslager Moria sind rund 12.000 Menschen obdachlos geworden.

© LOUISA GOULIAMAKI / AFP

Die wichtigsten Positionen im Check: Was tun für die obdachlosen Flüchtlinge auf Lesbos?

Nächstenliebe, europäische Lösung, Katastrophe mit Ansage. Ein Argumentecheck zeigt: Für jede Position gibt es Gründe – und bedenkenswerte Einwände dagegen.

Von Robert Birnbaum

Die Menschen aus Moria holen, und wenn ja, wie viele, welche und wohin? Das Großfeuer, das das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos vernichtete, zwingt Deutschland und Europa zum Handeln. Die Debatte über den richtigen Weg wird auf allen Seiten mit viel Emotion geführt. Doch so einfach, wie manche Sätze klingen, liegen die Dinge oft nicht. Ein Argumentecheck zeigt: Für jede Position gibt es Gründe – und bedenkenswerte Einwände dagegen.

„Christliche Nächstenliebe ist gefragt“ (Bodo Ramelow)

Außer der AfD widerspricht im Grundsatz wahrscheinlich niemand Thüringens linkem Ministerpräsidenten. Schwierig wird es bei der Auslegung: das Spektrum reicht von Nothilfe über den Aufbau menschenwürdiger Aufnahmelager bis zur Aufnahme aller Moria-Flüchtlinge.

Außer der AfD widerspricht im Grundsatz wahrscheinlich niemand Thüringens linkem Ministerpräsidenten.
Außer der AfD widerspricht im Grundsatz wahrscheinlich niemand Thüringens linkem Ministerpräsidenten.

© Martin Schutt/dp

Thüringen gehört zum Kreis der Länder, Städte und Gemeinden, die schon vor dem Feuer von Innenminister Horst Seehofer (CSU) die Erlaubnis forderten, Flüchtlinge aus den heillos überfüllten Lagern zu holen. Doch der Bund beharrt auf seiner Zuständigkeit und sagt Nein.

Den banalsten Grund hat Angela Merkel aufgeführt: Die Kommunen mit dem offenen Herzen stünden hinterher schnell mit offener Hand vor dem Bund und forderten finanzielle Unterstützung. Doch es gibt ernsthaftere Argumente gegen Flüchtlingspolitik auf Rathausebene. „In Deutschland herrscht Freizügigkeit“, sagt ein Innenpolitiker – spätestens anerkannte Flüchtlinge müssten nicht in der Aufnahme-Gemeinde bleiben. Spannungen von Dorf zu Dorf wären quasi programmiert.

Vor allem aber wenden Regierungspolitiker ein, dass sie auf EU-Ebene nicht verhandlungsfähig wären, wenn sie die Kontrolle über die Zuwanderung aus der Hand geben. Solle etwa faktisch eine Koalition der willigen Bürgermeister die nationale Aufnahmequote bestimmen?

„Es macht keinen Sinn mehr, auf eine europäische Lösung zu warten“ (Lars Klingbeil)

Wie der SPD-Generalsekretär argumentieren viele. Tatsächlich erscheint der Widerstand zumal der Osteuropäer gegen eine neue EU-Migrationspolitik „zementiert“, wie CDU-Vorsitzkandidat Norbert Röttgen konstatierte. Wenig spricht dafür, dass der für Ende des Monats angekündigte Vorschlag der EU-Kommission den Zement erweicht.

Wie der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil argumentieren viele.
Wie der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil argumentieren viele.

© Britta Pedersen/dpa

Andererseits: Wenn Deutschland die Brocken hinwirft – wer kämpft dann noch für ein EU-Asylsystem? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als Außenminister lange vertraut mit den langsamen Brüsseler Mühlen, sieht sein Land geradezu in der Pflicht. Und so klein angesichts des Problems die Absprache wirke, 400 Minderjährige sofort auf zehn Länder zu verteilen, sagt ein Regierungsmann, so wichtig sei sie als Vorbild und Zwischenschritt für eine Dauerlösung.

„Das ist nicht damit gelöst, dass alle nach Deutschland kommen.“ (Armin Laschet)

Wieder ein Satz, dem wenige widersprechen. Der NRW-Ministerpräsident und CDU-Vorsitzbewerber hat die Aufnahme von 1000 Flüchtlingen zugesagt, allerdings erst als Beitrag zu einer „langfristigen“ Lösung auf EU-Ebene. Die würde überflüssig, holte der Bund alle 12000 Ex-Moria-Insassen hierher – was selbst bei Einhaltung der „Obergrenze“ durchaus möglich wäre. Doch ein deutscher Alleingang, sagen Kanzlerin Merkel und ihr Minister Seehofer, wäre für alle anderen das Zeichen, dass sie das lästige Problem weiter ignorieren können.

NRW-Ministerpräsident und CDU-Vorsitzbewerber Armin Laschet hat die Aufnahme von 1000 Flüchtlingen zugesagt. Als Beitrag zu einer Lösung auf EU-Ebene.
NRW-Ministerpräsident und CDU-Vorsitzbewerber Armin Laschet hat die Aufnahme von 1000 Flüchtlingen zugesagt. Als Beitrag zu einer Lösung auf EU-Ebene.

© John MacDougall/REUTERS

Dagegen steht die Position, dass Europa sein Versagen nicht auch noch als Rechtfertigung für weiteres Klein-Klein vorschieben dürfe: In der Not gehe Hilfe vor Verhandlungstaktik. Manche Kritiker äußern sogar den Verdacht, dass die vormalige „Flüchtlingskanzlerin“ die widerspenstigen Partner als Vorwand nutze, um Ärger mit Hardlinern und Parteitaktikern in der Union zu vermeiden, die in jedem weiteren Flüchtling ein Aufputschmittel für die AfD wittern.

Der Vorwurf steht allerdings selbst unter Parteipolemik-Verdacht. Schließlich können Merkel diese Truppen im letzten Amtsjahr langsam herzlich egal sein.

„Das ist eine Katastrophe mit Ansage“ (Findet jetzt fast jeder)

Der Satz ist die Kurzfassung für den Vorwurf: Alle (außer dem jeweiligen Sprecher) haben die Zustände auf Lesbos billigend in Kauf genommen, wenn nicht klammheimlich gutgeheißen. Der böse Verdacht ist tatsächlich kaum auszuräumen. In CDU und CSU sind die Theorien der Abschreckung nicht mehr en vogue, die den Flüchtlingsstreit nach 2015 prägten. Verschwunden sind diese Haltungen und die Warnungen vor Push- und Pull-Effekten nicht.

Die Selbstblockade der EU ist auch in Europa vielen recht. Die Fremdenfeinde im Ministerpräsidentenrang ebenso wie die griechische Regierung sind an traurigen Bildern aus den Lagern interessiert. Athen hat jedenfalls wenig getan, um die Not abzumildern. Die Regierung hat auch jetzt nicht gebeten, ihr alle Obdachlosen von Moria abzunehmen. Sie fürchtet dann neuen Flüchtlingsandrang in der Ägäis und neue Lager-Feuer.

Die Sorge, dass die offenkundige Brandstiftung Nachahmer findet, teilen aber sogar viele, die sich für die Aufnahme größerer Flüchtlingskontingente aussprechen. Röttgen und seine Mitstreiter etwa wollen deshalb ausdrücklich nur 5000 Menschen holen, die als anerkannte Flüchtlinge sowieso längst in Europa verteilt sein sollten.

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Und selbst im Kreis der EU-Willigen, die Kontingente aus der Seenotrettung oder aus Moria aufnehmen, ist das Interesse an einem wirklich neuen Asylsystem begrenzt. In dem Club, hat einmal ein deutscher Europaabgeordneter bissig angemerkt, mache mancher nur mit, weil er dabei billiger wegkomme, als er nach Größe und Gewicht beitragen müsste.

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