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Politik: Die Wut der neuen Europäer

Naturschutz, Atomkraft, teurer Schnaps: Den Bulgaren passen die Vorschriften aus Brüssel gar nicht

Jeden Donnerstag sind Bulgariens Volksvertreter auf ihrem Weg zur Parlamentssitzung einem Spießrutenlaufen ausgesetzt: Hunderte Rentner begrüßen sie vor dem Diensteingang des Parlaments mit Verwünschungen und fordern eine kräftige Erhöhung ihrer Pensionen. Bei Durchschnittsrenten von 80 Euro im Monat sind die meisten von ihnen auf materielle Unterstützung durch ihre Kinder angewiesen und die soziale Situation der Alleinstehenden ist prekär. Altersarmut ist in Bulgarien kein soziologisches Schlagwort, sondern bittere Realität.

Die Protestbewegung der Senioren ist eine von vielen, die Bulgarien gegenwärtig erlebt. Ministerpräsident Sergej Stanischev sieht sich bereits veranlasst, vor der Ausbreitung von Populismus und Euro-Skeptizismus zu warnen. Im ganzen Land haben sich Bürgerinitiativen gebildet, die gegen die von der Europäischen Kommission geforderte Anhebung der Alkoholsteuer protestieren. Diese verteuert auch den zum Hausgebrauch gebrannten Rakija, das aus Trauben, Pflaumen oder Pfirsichen gewonnene bulgarische Nationalgetränk. So erleben die Bulgaren, seit 1. Januar EU-Bürger, dass die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union nicht nur die Aussicht auf Entwicklung und steigenden Wohlstand mit sich bringt, sondern auch unpopuläre, im fernen Brüssel getroffene Entscheidungen, die ihre Alltagswelt empfindlich beeinträchtigen.

Ähnlich massiv wie gegen niedrige Renten und hohe Schnapssteuern hat sich in den letzten Wochen Widerstand gegen das EU-Umweltprogramm Natura 2000 formiert. In Raslog im Pirin-Gebirge, Schkorpilovtsi am Schwarzen Meer und andernorts protestieren Ortsvorsteher und Grundeigentümer gegen die Einbeziehung ihrer Region in das Netz aus Natur- und Landschaftsschutzgebieten. Natura 2000, so fürchten sie, könnte ihnen jegliches Baurecht nehmen und ihre Heimat vom wirtschaftlichen Aufschwung abkoppeln.

Unterdessen steht die politische Elite des Landes über politische Grenzen hinweg geschlossen zur international geführten Kampagne für die Wiederinbetriebnahme der Reaktorblöcke 3 und 4 des AKW Kosloduj. Sie wurden zum 1. Januar vom Netz genommen. Selbst von der kategorischen Absage von EU-Umweltkommissar Andris Piebalgs lassen sich Atomkraftbefürworter wie Staatspräsident Georgi Parvanov und Sofias Bürgermeister Boiko Borissov nicht beirren. Wirtschafts- und Energieminister Rumen Ovtscharov bereicherte das Bulgarische um den Terminus „Action-Plan“: Einmal im Monat soll die Weltöffentlichkeit durch eine publizitätsträchtige Aktion an die Notwendigkeit der Wiederinbetriebnahme erinnert werden.

Wenig verlautet dagegen über den Stand der Fortschritte, die die bulgarische Regierung bei der Abarbeitung der von der Europäischen Kommission angemahnten kritischen Punkte gemacht hat. Werden sie nicht bis Ende März erledigt, drohen Sanktionen. Immerhin lobte die Europäische Kommission letzte Woche das bulgarische Parlament für die Verabschiedung der lange überfälligen Verfassungsreform, die das Justizwesen reformieren und den Kommunen Finanzhoheit geben soll. Die bulgarischen Volksvertreter haben außerdem eine Entscheidung getroffen, die weiteren Euroskeptizismus zumindest unter passionierten Rauchern verhüten mag: Im Gegensatz zu vielen andern Ländern, die Rauchen an öffentlichen Orten verbieten, soll in Bulgarien alles beim Alten bleiben.

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