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2012

© dapd

Politik: Die Zeitlosen

Früher lief Nesthäkchen zu Oma und Opa. Die hörten zu, die gaben Rat. Und heute? Heute sind Oma und Opa meist ausgeflogen.

Haben Sie in letzter Zeit mal einen von ihnen gesehen oder gar getroffen, gesprochen? Doch, doch, es gibt sie, doch sie sind nicht mehr so leicht zu erkennen wie einst. Aber wenn man genau hinschaut, kann man sie überall treffen: In Cafés, beim Einkaufen, im Apple Store, im Internet. Sie haben iPads und fahren Auto. Sie sind modern und mobil: in Rollstühlen auf Flughäfen, in Oldtimer-Wagen auf dem Land, ja, neulich haben sich sogar zwei von ihnen auf der Ostsee nördlich von Rügen mit einem Hausboot verirrt und wurden von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gerettet.

Ganz selten sind sie mit kleinen Kindern auf Spielplätzen anzutreffen oder gar zu Hause: die 24 Millionen Rentner in Deutschland. Das sind die Menschen, die heute gegen die Zeit kämpfen. Besser, um die Zeit kämpfen, denn sie haben keine!

Im öffentlichen Leben sind sie noch oder wieder aktiv: etwa unser Bundespräsident Joachim Gauck (72), im Sport Otto Rehhagel (73), in der Modewelt Jil Sander (68), oder „auf Arbeit“ wie der 78jährige Jochen H., der als Vertriebsexperte für einen Technikkonzern arbeitet.

Als meine Großmutter Rentnerin war, arbeitete sie nicht mehr. Sie verreiste auch nicht, meine Großmutter war immer zu Hause. Egal wann ich vor ihrer Tür stand – sie war da! Und sie hatte Zeit. Immer. Nur für mich. Wenn ich sie besuchte, gab es immer das gleiche Ritual: Zuerst ein aufgeschlagenes Ei mit Zucker, dann Apfelsinenstückchen (mit mehr Zucker) und obendrein eine heiße Tasse echten Kakao (mit noch mehr Zucker). Und während ich also süß gezuckert gemütlich bei ihr in der kleinen Küche saß und die köstlichen Häppchen zwischen meinem Mitteilungsbedürfnis vertilgte, schenkte sie mir ihr Ohr . Vielleicht schimpfte sie auch manchmal ein bisschen mit mir, zuerst über die aufgeschlagenen Knie, später über die verschmutzte weiße Strickjacke und noch später über die „falschen Freunde“. Aber vor allem schenkte sie mir ihre Zeit.

Meine andere Großmutter lebte in einer anderen Stadt. Sie besuchte uns jeden Sommer für mehrere Wochen. Und immer brachte sie mir etwas mit. Ihre Zeit! Sie las mir morgens, wenn alle noch schliefen, stundenlang die Mädchenbücher „Goldköpfchen“ (geschrieben in Sütterlin) vor, später beriet sie mich unermüdlich in Kleiderfragen.

Eins hatten meine beiden Großmütter gemeinsam: Sie waren immer geduldig und gaben mir das Gefühl, dass sie alle Zeit der Welt hatten.

Gestern bat mich nun ein älterer Herr, deutlich dem Rentneralter zuzuordnen – und das Nintendo-Spiel und die i-tunes-Gutscheine lassen auf seine Rolle als Großvater Rückschlüsse ziehen, oder kaufte er diese Sachen für sich und seine Freunde oder als Geburtstagsgeschenk für seine Frau? – an der Kasse um Vortritt. Er hatte es eilig, „wichtige Termine“. Halten wir zu Gute, dass er mit seinem Enkel verabredet war, als ich fragen wollte, war er schon weg. Keine Zeit!

Rentner haben keine Zeit mehr. Es sei ihnen gegönnt! Dank unseres Gesundheitssystems, können sie auch im Alter aktiv sein. Die Freizeitangebote für Rentner sind nahezu grenzenlos. Und Rentner sind unternehmungslustig. Sie treiben Sport, beispielsweise wie Fauja Sing (Jahrgang 1911), der letztes Jahr – als ältester Mensch –- den Marathon lief, sie studieren an Hochschulen (ca. 20000 Senioren sind an deutschen Universitäten eingeschrieben) oder: Sie reisen.

Da sind zum Beispiel Vera (75) und Walter (83).

Walter sprach jahrelang immer wieder von „better live in fifty-five“. Dass er aber dann doch noch bis 68 arbeitete, hatte sich so ergeben, sagen die beiden. Doch es kam der Tag und Vera setzte sich durch: Vor 15 Jahren kauften die beiden einen Oldtimer. So einen richtig schönen alten BMW, Baujahr 1938, Kabriolett. Ein Jahr dauerte die Instandsetzung. Sie hatten ja Zeit, sich ausführlich um ihr neues Hobby zu kümmern, recherchierten nach den richtigen Bezügen, suchten nach Originallacken. Und dann fuhren sie los: Mit dem Oldtimer quer durch Europa. Sie waren mit diesem Wagen wirklich schon fast überall. Die große Alpenfahrt sind sie bereits mehrmals gefahren. In Schottland hingegen waren sie nur einmal. Da war es ihnen ein bisschen zu kalt. Und Griechenland war ein echtes Erlebnis mit dem alten Wagen. Da brannte auf einmal der Motor auf einer kleinen Fähre. Zusammen mit anderen Rentnern konnte der Brand gelöscht und der Wagen nach Deutschland rücktransportiert werden. Ein kleines Abenteuer, von dem Vera und Walter noch heute gern erzählen und wer ihnen alles geholfen hat, das Missgeschick zu beheben. Wildfremde Menschen, spannenden Begegnungen. Natürlich wird der Wagen nur im Frühjahr und im Sommer bewegt, da sind die Ausfahrten mit diesem ansehnlichen Cabrio am schönsten. Das Reisen ist ein bewussteres geworden, meinen Vera und Walter, man sieht mehr, ist aufmerksamer und lernt Land und Leute leichter und intensiver kennen, als wenn man im Leihwagen durch Nordamerika von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit rast. So reisten Vera und Walter früher, als sie noch keine Zeit hatten.

Wenn dann die kühlere Jahreszeit beginnt, kommt der Oldtimer in die Garage. Und Vera und Walter steigen in ein Flugzeug. Das bringt die beiden nach Spanien, zu ihrem Häuschen an der Küste. Dort überwintern sie und treffen andere Rentner. Im Friesennerz missmutig im Herbstwetter ihre Frischluftrunden drehen? Oder sich daheim auf dem Sofa über das schlechte Fernsehprogramm aufregen? Nein danke, das ist doch nicht tagesfüllend für Rentner! Hingegen wandern, Ausflüge machen, zusammen Essen gehen, Karten spielen, da ist in Spanien der Tag immer viel zu kurz.

Man kann bei Vera und Walter nicht unangemeldet vor der Tür stehen, wie bei meiner Großmutter. Wenn man sie treffen möchte, muss man sich verabreden. Am besten spricht man ihnen auf den Anrufbeantworter oder man erreicht sie über Handy und vereinbart einen Termin, für sich selbst oder für ihre Enkelkinder. Denn die lieben sie über alles. Und sie tun alles für sie. Aber eben anders. Und wo steht geschrieben, dass sie in die Rolle der Ersatzeltern im Rentenalter schlüpfen müssen, wir können uns doch mit unseren Terminen an ihren Rhythmus anpassen. Heute braucht es eben eine Terminabsprache, oder – anders gesagt – ein bisschen mehr Planung.

Am besten man besucht Vera und Walter in Spanien. Das geht dann auch ganz spontan. Denn da haben sie etwas mehr Zeit. Und wenn die Enkelkinder mit dem Flieger alleine kommen, dann machen Vera und Walter Programm. Da geht's auf den Markt, da gibt es eine kleine Wanderung in den Bergen, oder Muscheln werden gesucht am Strand. Manchmal finden sie sogar Meeresaugen, die „Schneckentüren“, die so geheimnisvoll und schön aussehen. Und die Enkelkinder sind begeistert, stellen Fragen. Und dann antworten die Großeltern, so wie Großeltern das eben tun. Erklären ihren Enkeln ein bisschen die Welt und stillen die Wissbegier der jungen Generation, geben ihr Wissen weiter, so wie einst. Vielleicht sitzen sie dabei auch in einem Strandcafé und trinken dazu echten heißen Kakao (mit viel Zucker). Und dazu gibt es Churros – eine Art länglicher Krapfen –, die in den Kakao getunkt werden. Und es ist ganz gemütlich, nur, dass sie eben am Strand sitzen und nicht – wie ich – in der kleinen Küche meiner Großmutter. Und danach steht ein erfrischendes Bad im Mittelmeer auf dem Programm. Vera und Walter halten sich fit. Und abends, wenn Vera und Walter dann in ihrem kleinen Häuschen an der Küste sind, da wird vorgelesen, so wie meine Großmutter es damals tat. Es ist nur an einem anderen Ort. Zu dem die Enkelkinder einen weiteren Weg haben, als ich damals zu meiner Großmutter. Da flitzte ich schnell mal nach nebenan, wenn ich meine Eltern doof fand und mich über sie aufregen wollte, oder wenn ich Liebeskummer hatte, und meine Eltern keine Zeit hatten. Natürlich haben Vera und Walter immer „ein Ohr“ für ihre Enkelkinder. Doch findet die Kommunikation anders statt als damals. Auch heute sind die Großeltern quasi immer erreichbar mit ihren Handys, und Walter hat sich sogar Skype runtergeladen, eigens für die Enkelkinder. Dann wird auch erzählt und erklärt. Kleiderprobleme, Liebeskummer oder Mathehausaufgaben, die nur, und wirklich nur und ganz ausschließlich! - die Großeltern verständlich erklären können.

Aber ein aufgeschlagenes Ei mit Zucker gibt es nicht mehr. Aber ist das wirklich so wichtig?

Der medizinische Fortschritt sorgt dafür, dass die Menschen immer älter werden. So hat sich die Lebenserwartung seit 1960 bis heute von 71,7 auf 82,8 Jahre um eine Dekade verlängert. Eine weiter zunehmende Lebenserwartung sorgt dafür, dass 2050 Männer, so die Prognosen, ca. 84 Jahre und Frauen 88 Jahre werden. Demgegenüber ist mit einem kontinuierlichen Rückgang der Zahl der jüngeren Menschen (unter 20 Jahre) zu rechnen: von 15,6 Mio. im Jahr 2008 wird die Zahl der Jungen 2060 auf 11 Mio. schrumpfen.

Die Werbung hat die Zielgruppe '50plus' längst entdeckt, sie ist heute so begehrt wie in dem Jahrzehnt zuvor die jugendliche Zielgruppe. Denn die „neuen Alten sind aktiv, freizeitorientiert und konsumfreudig. Das Bild vom genügsamen Rentner, der sich in sein Rentendasein ergibt, ist schon seit Jahren überholt. 1995 brachte beispielsweise der Hersteller Beiersdorf die Serie „Nivea Vital - Pflege für die reife Haut“ auf den Markt. (Meine Großmutter hätte die bestimmt sofort gekauft, hätte sie noch gelebt. Denn sie schwor auf Nivea.) Die Marke wurde mit einer sportlich-eleganten Frau mit grauen Haaren und einem alterslosen Gesicht beworben. Heute ist diese Tagescreme eine der drei meistverkauften in Deutschland. Die Wirtschaft geht auf den demografischen Wandel in unserer Gesellschaft ein. Sind heute ca. 17% der deutschen Bevölkerung über 65, wird diese Bevölkerungsgruppe 2050 ca. 25 % in Deutschland ausmachen.

Joachim Fuchsberger macht in seinem Buch „Altwerden ist nichts für Feiglinge“ Mut zum Altwerden und rät dazu, sich den Lebensabend nicht durch demografische Schwarzmalerei verderben zu lassen. Ein Bestseller. Die neuen Alten sind auf Erfolgskurs. Auch in der Literatur sind sie zu finden und garantieren Erfolg: Jonas Jonassons Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ steht seit Monaten auf der Bestsellerliste. Und beschäftigt sich mit der Frage: Muss man erst alt werden, um das zu tun, was man wirklich möchte?.

Eine Antwort hierauf gibt die aktuelle Anti-Aids-Kampagne Mach's mit – Wissen und Kondom. Sie wirbt mit einer attraktiven Seniorin, die selbstbewusst in die Kamera blickt. Die Hände stützt sie frech wie eine 15 Jährige in die Hüften. Dazu der Spruch: „Ich will es lustvoll“.

Wenn also Rentner sein heute Lebensfreiheit bedeutet, wächst die Sehnsucht, dass man selbst ganz schnell Rentner sein darf. Was für ein Privileg! Ein Privileg?? Nun ja, es gibt auch die anderen, die nicht so gut gestellten, weder gesundheitlich noch finanziell.

Erwin G. – nennen wir ihn Erwin – lebt in Berlin. Erwin steht fast jeden morgen früh um fünf auf, aber nicht um Frühsport zu treiben. Um diese Uhrzeit sucht Erwin in den Mülleimern nach Pfandflaschen. Damit bessert er seine Rente auf. Seine Nachbarn wissen nichts von Erwins Nebentätigkeit, zu sehr schämt sich Erwin. Und die Nachbarn wissen auch nicht, wo Erwin seine Kleidung kauft. Die bekommt er von der Arbeiterwohlfahrt. Und sie ahnen auch nicht, dass Erwin, wenn er mittags das Haus verlässt, regelmäßig Gast in einer Suppenküche ist. Denn Erwins Rente reicht nicht zur Deckung seiner Lebenskosten. Wenn Erwin mal ein Bier trinken möchte – nein, nicht in einer Kneipe, das kann sich Erwin nicht leisten – sondern zu Hause, dann sucht er nach Sonderangeboten. In einem Supermarkt hat er ein Dauerschnäppchen entdeckt, dort kostet die Flasche Bier nur 26 Cent, wie mir Erwin als Geheimtipp letztens anvertraute. Und dafür nimmt Erwin den einstündigen Fußmarsch mit seinem Hackenporsche gern in Kauf. Und auch, dass das Bier ein bisschen bitter schmeckt, und das mag Erwin eigentlich nicht so gern. Erwin kippt einen kleinen Schuss Himbeersirup ins Bier, dann schmeckt es nicht mehr so bitter.

Erwin hat nicht so viel Glück gehabt in seinem Leben wie Walter. Dabei fing für ihn alles so schön an. Damals. In dem Betrieb, wo er 50 Jahre gearbeitet hat. Als Hausmeister, in einer kleinen Kosmetikfirma. Viel hat er nicht verdient, der Erwin, aber zusammen mit dem Gehalt seiner Frau hatten sie ihr Auskommen. Es reichte für ein kleines Reihenhaus am Stadtrand. Kein Auto, kein Urlaub. Das Ersparte wurde in die Ausbildung der einzigen Tochter gesteckt; ein Sprachstudium sollte es für sie sein. Mit allem Drum und dran, Auslandsaufenthalt inklusive. Die Tochter blieb dann auch gleich in Südamerika, schrieb jedes Jahr einen „Liebe Eltern-Brief“, heute ist es ein „Lieber-Papa-Brief“ (Erwins Frau ist vor 5 Jahren gestorben) mit aktuellen Fotos der Enkelkinder, die Erwin noch nie live gesehen hat. Die Tochter weiß nicht, dass es das Reihenhaus am Rande der Stadt, nicht mehr gibt. Erwin lässt sich die Briefe auch heute noch per Nachsendeauftrag schicken, damit seine Tochter nichts davon erfährt. Er will es ihr nicht erzählen. Erwin hat einen Fehler gemacht. Das weiß er heute. Er hat das letzte Ersparte in Aktien angelegt. Wie genau die heißen, das weiß Erwin nicht. Nur, dass der nette Bankbeamte sehr überzeugt von der Rendite war. Heute ist nichts mehr geblieben: kein Erspartes, keine Rendite. Nur noch Zeit. Und Einsamkeit. Für ein Flugticket nach Südamerika hat Erwin kein Geld, und auch dort könnte er den Enkelkindern nicht vorlesen, denn die sprechen nicht Deutsch. Und Erwin kein Spanisch.

Von einem Oldtimer kann Erwin nur träumen, wenn er mit seinem Hackenporsche unterwegs ist, auf der Suche nach Sonderangeboten und Pfandflaschen.

Erwin träumt nicht. Dafür hat er keine Zeit, genau so wenig wie Vera und Hans, nur eben anders.

Die neuen Alten, so scheint es, kennen keine Altersgrenze. Heute kommen auf 100 Erwerbstätige 45 Rentner. Im Jahr 2050 werden es 78 Rentner sein. Und wir werden einer von ihnen sein. Werden wir reisen, werden wir mit dem Hackenporsche auf Schnäppchenjagd gehen? Eins werden wir sicher haben: keine Zeit!

Danela Pietrek

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