zum Hauptinhalt
 Justin Sullivan/Getty Images/AFP

© AFP

Die Zukunft des Westens: Der Engel des Unheils

Mit seinem „Kampf der Kulturen“ bot Samuel Huntington der Welt eine düster faszinierende Prophezeiung an. Inzwischen ist einiges davon eingetreten – fatalerweise. Ein Essay.

Seit 22 Jahren ist Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ in aller Munde, das Buch, mit dem seither jeder Konflikt zwischen Menschen verschiedener Religion und Herkunft erklärt wird. Wenn man das brisante Buch zur Hand nimmt, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass der Politologe, der an der Harvard-Universität in den USA lehrte, mit seinem kontroversen Ansatz an vielen Stellen richtig lag.

Das ist der Kern von Huntingtons Thesen im „Kampf der Kulturen“: Kulturen bilden die Einheit, innerhalb derer Menschen zur Zusammenarbeit bereit sind und sich als Träger einer gemeinsamen Identität verstehen. Kulturen bilden eine Außengrenze zu „den anderen“, mit denen man weniger bis gar nichts gemein hat. Die Konflikte des 21. Jahrhunderts werden, so Huntington, an diesen Grenzlinien stattfinden. Huntington hat in seinem Buch ebenso den Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommen sehen wie auch den religiösen Konflikt, den die hinduistische Mehrheit in Indien mit der muslimischen Minderheit in der Zwischenzeit tatsächlich vom Zaun gebrochen hat. Auch vom Aufstieg Chinas ist bei Huntington ausführlich die Rede. Ihn nutzt er als Beispiel, um zu zeigen, dass jenseits dessen, was man klassisch als „internationale Beziehungen“ bezeichnete (vornehmlich europäische Nationen und die USA sprechen miteinander) etwas wachsen würde, was mit einem eigenen Selbstbewusstsein, einer eigenen Kultur, auf die Weltbühne treten beziehungsweise auf sie zurückkehren würde. Die Jahrhunderte, in denen der Westen den Ton auf Erden angab, sind für Huntington vorbei.

Diejenigen, die ihre Weltsicht schon immer von Huntington bestätigt sahen, werden angesichts der positiv klingenden Eingangszeilen sicherlich Erquickung verspüren. Zu Siegesgeheul besteht allerdings kein Anlass. Denn es ging Huntington, der bekannt wurde mit seinem Diktum von den „blutigen Grenzen des Islam“ nicht darum, die Welt explizit vor dieser Religion zu warnen und den Untergang der westlichen Welt durch grün gewandete Gotteskrieger zu prophezeien. Vielmehr stellt er im „Kampf der Kulturen“ die Parameter vor, mit denen im 21. Jahrhundert Identität definiert und politisch instrumentalisiert wird. Religion ist der wichtigste von ihnen, überall auf der Welt. Das war vor 20 Jahren eine umstrittene These. Heute ist sie es nicht mehr.

Huntington - ein Untergangsprophet

Der wirkliche Gegenspieler von Samuel Huntington ist der Optimismus der neunziger Jahre, die Euphorie jener Zeit, als der Eiserne Vorhang fiel und Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ ausrief. Eben jener Stanford-Professor ist die eigentliche Nemesis Huntingtons. Die beiden stehen für entgegengesetzte Welten: Für Huntington wird die Welt des 21. Jahrhunderts aus Konflikten bestehen, für Fukuyama hingegen wird sie ein ruhiger, konfliktfreier Ort. Man muss Fukuyama bis heute für seine Courage danken, so intensiv über eine auf Ausgleich und Konsens ruhende Weltordnung nachgedacht zu haben. Neben ihm konnte Huntington nur wie ein Untergangsprophet wirken. Für Huntington bedeutete die heranbrechende Zukunft das Ende des Westens, in Fukuyamas Denken hingegen lag seine strahlendste Zeit noch vor ihm.

Vielleicht hat das große Unverständnis, mit dem Huntington in Deutschland rezipiert wurde, einen sprachlichen Grund. Der Titel des Werks im Englischen „Clash of Civilizations“ wird im Deutschen übersetzt mit „Der Kampf der Kulturen“. Anders als in allen anderen Sprachen, in denen Zivilisation alle Äußerungsformen menschlichen Miteinanders umfasst, wird im Deutschen zwischen Kultur und Zivilisation unterschieden. Ein anderes Buch, das in diesem Jahr 100. Geburtstag feiert, illustriert das: Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlands“ spricht von der griechischen Kultur und der römischen Zivilisation. Die Griechen, das sind Philosophie, Politik und Demokratie. Die Römer, das sind Eroberung, Recht und Straßenbau. In den Debatten, die heute in Europa über den Islam geführt werden, heißt es häufig, dessen „Kultur“ passe nicht zu der unsrigen, die „islamische Kultur“ nicht zur „christlichen“ oder der „deutschen“. Deswegen heißt die deutsche Übersetzung seines Buches wie sie heißt.

Der rationale Mensch kann nicht ohne den Einbezug von Kultur verstanden werden

Was Huntington aufgrund seiner Verwurzelung in der englischen Sprache allerdings hervorragend herausstellen kann, ist, dass Kultur etwas Ganzheitliches ist, eben nicht nur Technik, Militär und Ökonomie. In Kultur äußern sich Interessen, die, gleich ob sie von Gruppen oder Individuen vorgetragen werden, keinen rationalen Kern haben müssen, der sich von kulturellen Eigenarten diskursiv distanziert. Der rationale, der ökonomische Mensch, gleich welches Konzept man auch immer heranziehen mag, um die komplexe Entscheidungsfindung des Menschen zu dechiffrieren, kann nicht ohne den Einbezug von Kultur verstanden werden. Kultur als Lebensvollzug, als Identität. Der Mensch ist also ein homo culturalis.

Das gilt im fernen China genauso wie in Europa: Eine Studie des PEW-Centers in den USA hat vor Kurzem die Ergebnisse einer Befragung in ganz Westeuropa zum Thema Christentum und Identität bekanntgegeben: Demnach sagen 91 Prozent der Befragten, dass sie christlich getauft seien, 71 Prozent dass das Christentum Teil ihrer Identität sei. Dazu gaben allerdings nur 22 Prozent an, Kirchgänger zu sein. Hier wird deutlich, warum eine Zweiteilung menschlicher Leistung in Zivilisation und Kultur nicht zielführend ist: Das Christentum ist in dieser Umfrage nämlich nicht (nur) Teil eines individuellen Lebensvollzugs, sondern wird vielmehr als elementarer Bestandteil des Gesamtsystems, der europäischen Zivilisation, verstanden und auch so herausgestellt. Man muss kein Gläubiger sein, um sich als Christ zu begreifen. Wir nennen im Deutschen solche Menschen „Kultur-Christen“, „Kultur-Protestanten“ oder „Kultur-Katholiken“. Für Huntington wären diese Menschen „Zivilisations-Christen“. Diese religiöse Zuschreibung, die prägend ist für unser Zeitalter, muss nicht automatisch in einen Konflikt führen. Aber jeder Konflikt unserer Zeit, so Huntington, hat mit der Verschiedenheit von Zivilisationen im Hinblick auf die religiöse Grundierung zu tun, die sie aufweisen.

Der Westen hat selbst niemals eine große Religion hervorgebracht, daher rührt seine Schwäche

Das „Zeitalter der Identität“ wie ich unsere gegenwärtige Epoche nenne, zeichnet sich im Huntingtonschen Sinne dadurch aus: Die Fragen nach dem Woher und Wohin werden (wieder) im Rahmen der jeweiligen, tausende Jahre alten, Zivilisationen, im Deutschen würden wir sagen, Kulturen, beantwortet. Dabei findet Huntington, dass die Schwäche des Westens daher rührt, dass er selbst niemals eine große Religion hervorgebracht habe. Die hinduistische oder die chinesische Kultur hingegen könnten aufgrund ihrer tiefen Verwurzelung in der Vorstellungswelt der Menschen, die mit ihnen aufwachsen, bis auf den heutigen Tag motivieren. Gerade Chinas Aufstieg, den die Kommunistische Partei nicht zuletzt der konfuzianischen Ethik mit ihren Prinzipien der Meritokratie, Harmonie, Respekt und Disziplin, verdankt, ist ein gutes Beispiel dafür, wie „Religion“ (nicht als ein System von Dogma und Spiritualität, sondern von „Ortho-Praxis“ verstanden) politisch fruchtbar gemacht werden kann. Niemand kann verneinen, dass die Volksrepublik China in den vergangenen drei Jahrzehnten Unglaubliches geleistet hat, indem sie hunderte Millionen Menschen aus bitterer Armut zu einem bescheidenen Wohlstand geführt hat.

Wie der Westen auseinanderbricht

 Justin Sullivan/Getty Images/AFP
Justin Sullivan/Getty Images/AFP

© AFP

Was den Westen betrifft, so sieht Huntington die Ordnung der Welt, die nach dem Westfälischen Frieden entstanden ist, auseinanderbrechen. Der europäische Weg, wonach Politik und Religion zu trennen seien, werde auf der säkularen, der zivilisatorischen Ebene den Menschen und ihrem Sehnen nach einem Narrativ von Identität nicht gerecht, so Huntington. Der Soziologe Elias Canetti hatte dies bereits in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in seinem Meisterwerk „Masse und Macht“ beschrieben: Das Christentum in Europa, so schrieb er, könne nicht mehr mobilisieren, da die Menschen den Glauben an das Jenseits verloren hätten. Heute zeigt sich allerdings, ein Blick auf die Zahlen von PEW genügt, dass das Christentum sehr wohl weiterhin dazu in der Lage ist, die Menschen in Europa zu mobilisieren. Die Ablehnung des Islam als „nicht-abendländisch“, ergo als „nicht-christlich“ ist in allen Ländern auf dem europäischen Kontinent mehrheitsfähig. Gleichzeitig belegen diese Zahlen eindrucksvoll, dass die Frage nach Identität zurückkehrt und nicht die Frage nach Gott. Das Zueinander von einzelnen, zu der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen. Das Zueinander dieser Gruppe zu anderen Gruppen. Darum geht es im Moment, überall auf der Welt.

Das Ende der Vormachtstellung des Westen

Die Narrative, die Zivilisation zugrunde liegen, beschreibt Huntington schamlos als exklusiv: Das heißt, sie leben von einem „wir gegen die“, einer Abgrenzung, die in der Realität bis auf den heutigen Tag dazu führt, dass Mehrheiten sich gegen Minderheiten erheben und diese – zum Sündenbock deklariert – schockierender Diskriminierung, wenn nicht gar dem Tod preisgeben. Das große Verdienst Huntingtons, die menschliche Natur so gnadenlos herauszustellen, macht ihn im selben Moment zu einem Engel des Unheils, der mit uns auf die Scheiterhaufen der menschlichen Geschichte schaut. Gleichzeitig bietet er nichts an und hält keine Erlösung bereit, die den Menschen im 21. Jahrhundert davor bewahren könnte, die Verfehlungen und Schrecken der Vergangenheit zu wiederholen. „Nur noch ein Gott kann uns retten“, hat Martin Heidegger einmal gesagt. Nach der Lektüre Huntingtons muss man sagen: Nicht mal vom Himmel kommt dem Menschen Rettung. Der Mensch findet keinen Ausweg aus einer Weltsicht, die Eigenes nur dann produzieren kann, wenn es gegen Fremdes in Stellung gebracht ist.

Huntington geht davon aus, dass es mit der Vormachtstellung des Westen in der Welt vorbei ist. In seinen kühnsten Träumen hätte sich der Politologe hingegen nicht vorstellen können, dass die USA selbst den Westen zu Grabe tragen. Dass US-Präsident Trump die gemeinsame Basis des Wohlstands der G7 zertrümmert, ist in Huntingtons Drehbuch nicht vorgesehen. Für ihn sind die regionalen ökonomischen Bündnisse von Ländern, die derselben Kultur angehören, selbstverständlich. Die Teilnahme Russlands an der G-Gruppe muss ihm widersinnig erscheinen ebenso die Forderung eines US-Präsidenten, dieses Land wieder in den Kreis des Bündnisses hinzuzubitten und damit seine direkten Verbündeten zu vergrätzen.

Die USA werden so zum Verlierer der Geschichte, denn am Ende werden sie, anders als die Europäer, ohne Freunde zurückbleiben. Das Konzept einer gemeinsamen Wohlstandszone mit Kanada und Mexiko ist geplatzt. Trump hat die beiden Partner unzählige Male beleidigt und den Sinn eines solchen Abkommens in Frage gestellt. Den Bruch mit Mexiko würde Huntington, der fälschlicherweise Lateinamerika die Weltlichkeit abspricht, begrüßen. Auf den Bruch mit Kanada würde er sich keinen Reim machen können.

Huntingtion sieht die Zivilisationen um einen großen Kernstaat kreisen

Huntington kann eine Weltordnung nur in der Weise denken, als dass eine (militärisch) dominante Kraft dem Rest der Welt die Rahmenbedingungen dieser Ordnung diktiert und oktroyiert. Reiche entstehen, dominieren und zerfallen schließlich. Hier steht Huntington in einer Tradition geschichtsphilosophischer Spekulation, die in der deutschen Geistesgeschichte untrennbar mit dem Namen Hegel verbunden ist. Aber auch andere Denker, wie eben genannte Spengler und Fukuyama gehören dazu. Ziel ihres Denkens ist es, im Wechselspiel von Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen eine Struktur, gar einen Plan zu erkennen. Es geht um nicht weniger als die Bedeutung der Geschichte.

Für die Zukunft sieht Huntington die jeweiligen Zivilisationen um einen großen Kernstaat kreisen, der wiederum, in Stellvertreterfunktion quasi, im Austausch mit den anderen Kernstaaten der anderen Zivilisationen steht. Die USA werden wohl nicht mehr dabei sein. In Europa, so Huntington, sollten Deutschland und Frankreich gemeinsam Führung übernehmen. Berlin ist jedoch dabei, sich bedeutungslos zu machen, Präsident Macron alleine wird Europa nicht vor dem Bedeutungsverlust bewahren können. Die arabische Welt, so legt es der Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2003 nahe, ist als Kulturregion gescheitert: Solange mehr Bücher ins Griechische denn ins Arabische übersetzt werden (elf Millionen Griechen stehen hierbei 300 Millionen Menschen gegenüber, die Arabisch sprechen), hat diese Kulturregion der Welt nichts anzubieten. Es bleibt also nur China und die auf dem Konfuzianismus gründende Ordnung, die Peking propagiert. In 50 Jahren wird Konfuzius im christlichen Europa wichtiger sein als das Neue Testament.

Alexander Görlach

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false