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Zuversicht, hier auf das Schloss Bellevue projiziert, brauchen wir alle für die anstehenden Wintermonate.

© imago images/Stefan Zeitz

Dieses Weihnachtsfest wird anders als alle anderen: Aber Hoffnung macht den Menschen

Wir müssen auf Freunde und Verwandte verzichten. Doch all das lässt sich ertragen: mit dem Vertrauen auf die Erlösung von dem Virus. Ein Essay.

Das Jahr 2020 war sicher das außergewöhnlichste und herausforderndste, das viele von uns je erlebt haben. Wie immer in einer Krise lernten Menschen nicht nur deren Auslöser kennen, sondern auch sich selbst.

Gleichsam durch ein Brennglas haben wir die großen Stärken des Menschen gesehen, von Solidarität, Fürsorge und Mitgefühl über Kooperationsbereitschaft bis hin zur schieren Kraft des nach Lösungen suchenden Geistes. Ebenso deutlich wurden unsere großen Schwächen – von Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit, Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit über Egoismus bis hin zu aggressiver Irrationalität.

Gegen Ende kommt nun vermehrt etwas dazu, das so menschlich ist wie kaum etwas anderes: Hoffnung. Ist sie eine Stärke oder eine Schwäche?

Was macht den Menschen zum Menschen, unterscheidet ihn von den anderen Tieren? Unter anderem sicher sein Talent, sich – wenn er sich seiner Intelligenz und nicht seiner Ignoranz bedient – buchstäblich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Aber eben auch seine Fähigkeit, genau das überhaupt für möglich zu halten: zu hoffen.

Es ging sehr viel um Biologie in diesem Jahr. Um Viren, das Immunsystem, um die Ökosysteme, in die wir zerstörerisch eindringen und aus denen heraus neue Keime dann in uns zerstörerisch eindringen können.

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Zuletzt ging es auch viel um Evolution – in Form eines Virus, das mutiert, sich anpasst und das evolutionäre Rennen mit uns aufnimmt. Genau denselben Mechanismen der Evolution aber haben wir auch die Fähigkeit zu verdanken, in Laboren innerhalb von ein paar Monaten wirksame und offenbar sehr verträgliche Impfstoffe zu erschaffen. Und eben auch die gerne als „bloßes Gefühl“ abgestempelte Qualität, die ein Virus niemals haben wird: hoffen zu können.

Schon Darwin interessierte sich Emotionen und deren Kommunikation

Jene „bloßen Gefühle“ und ihr Ausdruck interessierten schon Charles Darwin mindestens ebenso sehr wie die Frage, wie Arten entstehen. Er veröffentlichte darüber 1872 ein ganzes Buch. Für ihn waren Emotionen und deren Kommunikation nützliche Anpassungen für Tiere. Menschen allerdings trugen sie eher als lästige Hinterlassenschaften ihrer primitiven Herkunft mit sich herum.

Wer gerne einmal behaupten will, dass Darwin unrecht hatte, kann es hier tun. Denn längst gibt es unzählige Belege dafür, dass Emotionen, zu denen auch die Hoffnung gehört, biologische „Anpassungen“ sind, die Menschen „Fitness“ im darwinschen Sinn verschaffen können.

Studien zeigen, dass Hoffnung hilft, Probleme zu lösen, Krankheiten zu verhindern oder mit ihnen umzugehen, das Selbstwertgefühl zu steigern, mit Traumata und psychischem Stress umzugehen. Sogar im Immunsystem können sich positive Auswirkungen zeigen. Und Senioren, die sich selbst als hoffnungsvoll bezeichneten, starben in der darauffolgenden Zeit deutlich seltener als Altersgenossen mit einer weniger positiven Sicht auf die Zukunft.

Die Hoffnung hat keinen guten Leumund

Trotzdem hat die Hoffnung nicht unbedingt einen guten Leumund. Dass sie, als eine der drei christlichen Grundtugenden, jahrhundertelang im Interesse der Machterhaltung der Kirche und der jeweils weltlich Herrschenden gepredigt wurde, ist unbestritten. Nietzsche nannte sie „das übelste aller Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert“. Und Ernst Bloch, der sie zum Grundprinzip des Strebens nach einer besseren Gesellschaft ausrief, hat dafür viel intellektuelle Prügel bezogen.

Der Begründer der Hoffnungspsychologie, Charles Snyder, definierte Hoffnung allerdings auch als etwas sehr anderes denn als blinde Zuversicht und Glaube an Durchhalteparolen. Folgt man ihm, ist sie ein "Licht am Ende des Tunnels", auf das man aber eben auch zulaufen muss: Sie setzt sich zusammen aus Zielen, dem Erkennen von Wegen dorthin und der Bereitschaft, diese aktiv zu beschreiten.

Zum Zusammenhalt der Gesellschaft gibt es keine vernünftige Alternative - auch das hat das Jahr 2020 gezeigt.
Zum Zusammenhalt der Gesellschaft gibt es keine vernünftige Alternative - auch das hat das Jahr 2020 gezeigt.

© imago images/Stefan Zeitz

In Studien kann man diese Einzelkomponenten auch abfragen. Man findet dann, wie Randolph Arnau von der University of Southern Mississippi, zum Beispiel heraus, dass Personen, die sich als hoffnungsvoll bezeichnen, Monate später deutlich weniger Zeichen für Depressionen oder Angstzustände zeigen als andere. Man findet aber eben auch, dass dies nur dann gilt, wenn sie auch angegeben hatten, ihre Ziele und Wünsche aktiv zu verfolgen.

Auch der Begründer der „Evolutionären Medizin“, Randolf Nesse, blickt nur dann hoffnungsvoll auf Hoffnungen, wenn sie einigermaßen rational begründet sind. Sonst würden sie andere mögliche Auswege versperren.

So ist auch Greta Thunbergs berühmtes Zitat, sie wolle angesichts des Klimawandels von Erwachsenen „nicht, dass ihr hoffnungsvoll seid“, sondern „dass ihr Panik bekommt“, keine Ablehnung der Hoffnung an sich. Es ist ein Nein zu einem tatenlosen, bequemen „Wird schon werden“. Und Letzteres hat sich ja vielfach als tödlich herausgestellt im Jahr 2020.

Manche Probleme der Menschheit sind zu lösen

Aber 2020 war eben auch das Jahr, das gezeigt oder zumindest Hoffnung gemacht hat, dass mit echten Anstrengungen, mit der richtigen Mischung aus Rationalität und Gefühl, mit einem ehrlichen Umgang mit Wissen und Unwissen, so manches Problem der Menschheit zu lösen ist. Und das ziemlich schnell und auch, wenn das Wasser uns schon bis zum Halse steht.

Das Jahr wird auch durch seine Bilder in Erinnerung bleiben. Und es werden nicht nur die der unnötig Verstorbenen sein, nicht nur die, die maximal ignorante und rücksichtslose Menschen zeigen. Sondern wir werden uns auch an das erste Bildschirmtreffen mit dem genesenen Kollegen erinnern.

Oder an das wunderbar absurde Video eines erwachsenen Mannes, der sich in voller Fahrt auf dem Skateboard brausetrinkend selbst filmt, unterlegt mit dem Fleetwood-Mac-Song „Dreams“. Es wurde abermillionenfach angesehen und vieltausendmal kopiert und adaptiert. Weil es schlicht Hoffnung verbreitete.

Dieses Jahr, es kulminiert in einem zu ihm passenden Weihnachtsfest. Einem, an dem eine konkret Angst vor dem Erreger, seinen gesundheitlichen, persönlichen, ökonomischen Folgen überall präsent ist. Einem, an dem wir noch nicht einmal Lieder singen sollen. Einem, an dem wir nicht wie sonst Familie und Freunde besuchen, einander umarmen und küssen werden.

All das können wir, glaubt man den Hoffnungspsychologen, besser auf uns nehmen und anderen eher zumuten, wenn wir wissen, dass wir genau damit aktiv auf das Erhoffte hinarbeiten: die Erlösung von dem bösen Virus. Für viele wird es so zwar das schwerste Weihnachten ihres Lebens bisher sein. Aber auch das hoffnungsvollste.

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