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Politik: Diesmal ohne Sartre

Von Moritz Schuller

Das deutsche Außenministerium hat in diesem Jahr Reisewarnungen für Somalia, Haiti, die Zentralafrikanische Republik, Kongo, Afghanistan und Irak herausgegeben. Am Montag kam Frankreich dazu. Reisende nach Paris, hieß es, sollten „besondere Umsicht walten lassen“. Vor fast 40 Jahren hätte Frankreich das als Auszeichnung verstanden, als damals die intellektuelle Avantgarde ihre Revolution begann: den Rat, in Paris besonders umsichtig zu sein. Heute werden dort Kindergärten und Schulen abgefackelt, Busse gesteinigt, Unschuldige zu Tode geschlagen. Der JeanPaul Sartre von heute spricht nicht einmal französisch, es gibt ihn vermutlich nicht einmal. 2005 ist nicht 1968: Worum es damals ging, war einigermaßen verständlich, doch nach elf Nächten Straßenschlacht in Paris herrscht überall Unverständnis – auch darüber, ob aus der Gewalt wie damals eine europäische Bewegung werden könnte.

Umso erstaunlicher, dass in Deutschland vielen klar zu sein scheint, woran es hapert: an der Integration. Der Innenminister von Brandenburg redet so, auch der aus Schleswig-Holstein. Das ist ein Missverständnis: Niemand, dessen Identität aus Abgrenzung besteht, will in den Rest der Gesellschaft integriert werden. Er würde seine Identität dadurch aufgeben. Selbst unter den amerikanischen Schwarzen gilt bürgerlicher Erfolg oft noch als „weiß“ und wird deshalb abgelehnt. Integriert zu werden, ist nicht, was die Rebellierenden wollen, im Gegenteil: „Alles, was wir verlangen, ist in Ruhe gelassen zu werden“, sagt einer ihrer Führer. Integration, das konnte man schon an den Niederlanden lernen, kann man nicht erzwingen. Wirklich angekommen ist diese Botschaft nicht, geschweige denn, dass eine andere Antwort gefunden worden ist.

Wie verständnislos sich Teile der französischen Gesellschaft heute gegenüberstehen, zeigt der Vorwurf des Rappers Adom ’Megaa, Innenminister Nicolas Sarkozy würde das Volk nicht „respektieren“. Sarkozy hatte die Randalierer „Abschaum“ genannt. Respekt aber ist die Währung der Vorstädte. Die Menschen wollen geachtet werden. Demütigung, sogar nur gefühlte Demütigung, rechtfertigt offenbar Gewalt. Doch Respekt ist keine sinnvolle politische Kategorie, ist etwas anders als Recht und Verantwortung.Jede Antwort auf das, was in Paris passiert, muss sich dieser Differenz bewusst sein.

Dass offensichtlich viele Franzosen den Respekt vor ihrem Staat verloren haben, ist aber nur folgerichtig. Die Bilder aus Paris – hier die holzgetäfelte Nationalversammlung mit einem dichtenden, adligen Ministerpräsidenten, dort eine Subkultur in Hochhäusern – zeigen, wie sehr Frankreichs Gesellschaft in hermetische Einzelteile zerfällt. Und dass die herrschende Klasse Frankreichs zunehmend das Gespür für das eigene Land verliert, hatte bereits der Ausgang der Referenden zur europäischen Verfassung im Frühjahr angedeutet. Damals und jetzt wirkt das Land wie gelähmt, sprachlos und offensichtlich überrascht von der Heftigkeit der Ausbrüche. Dass nicht einmal die öffentliche Ordnung wiederhergestellt werden kann, ist erschreckend. Nicht auszudenken, wenn in einem Land mit über fünf Millionen Muslimen eine solche bislang „nur“ kriminelle Energie islamistisch instrumentalisiert werden sollte.

So unterschiedlich die Situation der Minderheiten in Europa ist, dieses Unbehagen lässt sich auch auf den Rest des Kontinents übertragen: das Unbehagen darüber, wie wehrlos unsere Gesellschaften sind, wenn sie überraschend herausgefordert werden, und wie nutzlos die traditionellen Antworten auf solche Krisen. Wenn selbst die toleranten Niederländer, wenn selbst die stolzen, nationalbewussten Franzosen nicht identitätsstiftend auf Immigranten und deren Nachfahren wirken, wer dann?

Schon jetzt schwappt aus Paris ein Gefühl herüber, dass auch wir das, was in unserer eigenen Gesellschaft passiert, womöglich nicht mehr wirklich verstehen. Es ist ein Unbehagen, dass auch hier jederzeit etwas zum Ausbrechen kommen kann, worauf wir nicht vorbereitet sind. „Besondere Umsicht“ sollten wir also auch verwenden, wenn wir nicht auf Reisen sind.

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