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Politik: Dokumentation: Köhlers Grundsatzrede

Berlin (15.03.

Berlin (15.03.2005, 13:33 Uhr) - Bundespräsident Horst Köhler hat sich vor den Arbeitgeberverbänden in einer Grundsatzrede zu Arbeitsmarktreformen geäußert. Die Rede in Auszügen:

«Deutschland ist sich selber untreu geworden. Wir vernachlässigen schon lange das Erfolgsrezept, das der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg Zuversicht und Wohlstand, Stabilität und Ansehen gebracht hat. Es gab Zeiten, da sprach noch niemand von Globalisierung, aber der VW Käfer lief in aller Welt. (...)

Diese Ordnung ist im Niedergang, weil immer neue Eingriffe sie schleichend zersetzt haben, selbst wenn sie gut gemeint waren. Seit Jahrzehnten fallen Bundes- und Landesregierungen und nicht zuletzt Brüssel immer neue Auflagen und Regulierungen für die Wirtschaft ein, Wirtschafts- und Sozialverbände haben das ihre dazu getan, die Tarifpartner schlossen Verträge zulasten von Dritten, und die Bürger ließen sich gern immer neue Wohltaten versprechen und Geschenke machen. (...) Deshalb ist die Massenarbeitslosigkeit auch kein konjunkturelles, sondern vorwiegend ein strukturelles Problem. (...)

Es sind dicke Reformbretter, die wir bohren müssen. Ein mutiger Anfang ist mit der Agenda 2010 gemacht. Er wird eine positive Wirkung entfalten. Doch wir müssen unseren Menschen ehrlich sagen, dass wir es damit noch nicht geschafft haben. (...)

Das alles erfordert Zeit - über Legislaturperioden hinweg. Taktische Reformpausen wegen Wahlterminen oder einen Zickzack-Kurs können wir uns nicht leisten. (...) Ich begrüße, dass sich Regierung und Opposition in dieser Woche zusammensetzen. (...) Regierung und Opposition stehen in patriotischer Verantwortung. (...)

Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir in Deutschland jetzt eine politische Vorfahrtsregel für Arbeit. Was der Schaffung und Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze dient, muss getan werden. Was dem entgegensteht, muss unterlassen werden. Was anderen Zielen dient, und seien sie noch so wünschenswert, ist nachrangig. (...)

Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren Lohnzurückhaltung geübt. Damit haben sie einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit geleistet. Das verdient Anerkennung. Dieser Pfad muss fortgesetzt werden. Aber wir sind bei dem Kernproblem, den zu hohen Lohnnebenkosten, noch nicht wirklich weitergekommen. Sie haben Arbeit in Deutschland so teuer gemacht, dass viele Menschen kaum noch eine Chance auf einen Arbeitsplatz haben. (...) Am wirkungsvollsten wäre es, die Kosten der sozialen Sicherung völlig vom Arbeitsverhältnis abzukoppeln.

Von den Menschen über 55 haben in Deutschland nur noch 40 Prozent einen Arbeitsplatz, in der Schweiz dagegen sind es fast 70 Prozent. (...) Wir können es uns nicht leisten, auf das Wissen und die Erfahrung der Älteren zu verzichten. Es gibt darum insgesamt nur einen vernünftigen Weg: Alle Regelungen für den Arbeitsmarkt, ob gesetzlich oder tariflich, müssen darauf überprüft werden, ob sie Beschäftigung fördern.

Um Wachstum und Beschäftigung nachhaltig zu stärken, brauchen wir auch eine umfassende Steuerreform. Das deutsche Steuersystem ist kompliziert und unübersichtlich. (...) Unser Steuersystem schreckt ab - vor allem Investoren. Es muss von Grund auf überholt werden mit dem Ziel, die Steuersätze zu senken und die Bemessungsgrundlage zu verbreitern. (...)

Politischen Mut und Hartnäckigkeit brauchen wir aber auch beim Abbau von Subventionen. (...)

Wir müssen um so viel besser sein, wie wir teurer sind. Wir brauchen Lehrer, die darauf brennen, ihren Schülern etwas beizubringen - und Schüler, die sich begeistern lassen. Wir brauchen Eltern, die ihre Kinder zur Wissbegierde erziehen und auch einmal verstehen, wenn nach dem Experimentieren der Teppich ein Loch hat. (...)

Dafür liefert unser Bildungssystem heute nicht mehr die Grundlage. Fast 9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler - das sind jährlich rund 85 000 - bleiben ohne Abschluss. Unternehmer klagen darüber, dass immer mehr Bewerber nicht richtig rechnen und schreiben können. Unsere Schulen und Universitäten sind im internationalen Vergleich bloß noch Mittelmaß. (...)

Manche Unternehmen machen stattliche Gewinne, investieren aber nicht, weil sie zu wenig Vertrauen in den Standort Deutschland haben. Denen sage ich: Ihr solltet die Stärken dieses Standorts nicht gering schätzen. Und was seine Schwächen angeht: An denen arbeitet Deutschland.» (tso)

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