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© Mike Wolff

Dokumentiert: "Das Konfliktpotenzial ist noch gar nicht erfasst"

Expertenrunde: Ein Meinungsforscher, ein Psychologe, ein Politologe und eine Börsenexpertin diskutierten beim Treffpunkt Tagesspiegel über die Bundestagswahl. Wir dokumentieren hier das Gespräch.

George Turner, Moderator:

Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen versuchen mit Experten, die ich Ihnen gleich vorstellen werde, ein paar Themen zu erörtern, die für die Wahl, generell für Wahlen von Bedeutung sind. Das ist einmal sicherlich das Thema der großen Zahl der Wahlverweigerer, es ist aber auch die Frage, wie es sein kann, dass so große Differenzen bestehen zwischen der Zustimmung zu einer Person und der Nichtzustimmung zu einer Partei. Und das sind eine Reihe von Fragen, auf die wir eingehen werden. Wir haben dazu Gäste eingeladen, die ich Ihnen vorstellen darf und zwar: Rechts neben mir Frau Anja Kohl. Sie ist Börsenkorrespondentin und Ihnen sicherlich aus ARD-Sendungen bekannt, daneben Herr Professor Jürgen  Falter vom Institut für Politikwissenschaft für der Universität Mainz, früher auch mal in Berlin tätig und seines Zeichens Wahlforscher, Parteienforscher. Auf der Linksaußenposition, wenn ich das von hier so bezeichnen darf, der eben eingelaufene Herr Thomas Kliche von der Universität Hamburg. Er ist Leiter der Forschungsgruppe Prävention am Universitätsklinikum Eppendorf und der Herausgeber der Zeitschrift für politische Psychologie. Neben mir Herr Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen und last but not least aber er ist nicht Gast, sondern wir zusammen sind für diese Veranstaltung verantwortlich und zuständig: Herr Gerd Appenzeller, Redaktionsdirektor des Tagesspiegels.

Gerd Appenzeller:
Vielen Dank Herr Turner. Auch von mir ein herzliches Willkommen, dass Sie heute Abend gekommen sind, und sich noch einmal vor der Wahl informieren wollen, was Sie wählen sollten. Das Sie sich informieren wollten, was Sie wählen sollten. Meine erste Frage geht an Matthias Jung. Wie entschlossen sind die Deutschen diesmal, Herr Jung? Vor vier Jahren hatten wir in den letzten zehn Tagen vor der Wahl jenen Schwenk, der die lange schon als sicher prognostizierte Schwarz-Gelbe Koalition plötzlich in Frage stellte, und die Mehrheit kostete. Wie sieht’s diesmal aus? Wenige Tage vor der Wahl.

Matthias Jung: Also wir haben natürlich auch das letzte Mal keine Prognose abgegeben zehn Tage vor der Wahl und haben auch dieses Mal keine Prognose abgegeben für die Wahl. Sondern wir messen ja mit den Umfragen eigentlich immer nur die Situation zum Zeitpunkt, zu dem wir die Umfrage machen. Wir können ja auch nicht, weil wir keine Wahrsager sind, eine Diskussion vorweg nehmen die in einer Woche vor der Wahl noch mal stattfindet und deshalb haben wir jetzt auch wieder das Problem, dass die Menschen sich ja eigentlich, die, die jedenfalls mehrere Optionen haben, am Mittwoch, Donnerstag vor der Wahl, also jetzt beginnend, endgültig festlegen und wir haben 2002 und 2005 in dieser letzten Woche heftig über Koalitionsalternativen diskutiert, stärker als davor, und wenn Sie jetzt sich das anschauen, haben wir auch jetzt heftige Diskussionen wo  Verschiedene eine Ampelkoalition haben wollen, in der sie regieren, andere damit nichts zu tun haben wollen, und das alles hat natürlich Wirkung auf den sehr hohen Anteil von Menschen, die ich nicht als unentschlossener bezeichne, weil sie sich ja noch nicht jetzt entscheiden müssen, aber die verschiedene Optionen haben, und der Anteil derjenigen Wählerinnen und Wähler, die mehrere Parteien als Option bis zum Schluss zur Verfügung haben, die ist eben auch einfach steigend in den letzten Jahrzehnten und Jahren. Und deshalb haben wir natürlich auch da innerhalb der traditionellen Lager Union und FDP einen sehr hohen Prozentsatz der noch Beides sich hier denken kann, zu Wählen im Linken Lager auch und wir haben den spannenden Teil, der sich sowohl vorstellen kann, Union als auch SPD zu wählen und das ist der Teil, in der letztlich die Machtfrage, ob es für Schwarz-Gelb reicht oder nicht entschieden wird, und das ist immer noch ein ganz beachtlicher Teil, und da sind die einen oder anderen Prozentpunkte auf jeden Fall noch drin. Trotzdem sind natürlich bestimmte Tendenzen klar. Das eben einen riesen Abstand geben wird zwischen Einheiten der Union und der SPD. Rot und Grün überhaupt definitiv jenseits von irgendeiner Machtoption entfernt ist. Aber ob es knapp für Schwarz-Gelb reicht, mit oder ohne Überhangmandate, das kann man glaube ich, überhaupt im Instrument der Umfrage angesichts der Knappheit der Lage auch diese Woche noch nicht entscheiden und das wird bis zu den letzten Metern eigentlich noch offen sein, selbst wenn die dann mit einem Prozentpunkt vor oder hinter liegen, sind es natürlich Bewegungen, die es mit einer Umfrage im 2- 3% Fehlerbereich garantiert nicht entscheiden können.

Gerd Appenzeller:
Was Herr Jung sagt, schlägt für mich den Bogen zu Professor Falter weiter. Die große Zeit derjenigen, die sich nicht sicher sind, ob sie CDU oder SPD wählen - das überrascht auf den ersten Blick, zumindest mich, der ich denke, zumindest das sollte man doch wissen, welche der zwei großen Lager man angehört. Ist das eine neue Erscheinung Herr Professor Falter oder beobachten Sie das schon länger?

Jürgen Falter:
Also es gab immer schon eine Reihe von Wählern, die keinem der Lager wirklich zuzuordnen waren. Nun haben wir allerdings in der Zwischenzeit durch die große Koalition eine Annäherung der Parteien in den Augen der Öffentlichkeit in den Augen der Wähler gehabt, und alle Dinge, die in den letzten vier Jahren entschieden worden sind, sind ja schließlich auch gemeinsam entschieden worden, was im Übrigen das Wahlkämpfen so schwer macht für die SPD. Sie kann sich kaum profilieren, sie kann nicht sagen, alles was in den letzten vier Jahren geschehen ist, das war Mist, denn sie hat alles mitgetragen. Manchmal zähneknirschend, manchmal hat sie selber den Gang der Dinge bestimmt. Und insofern ist das gar nicht so unwahrscheinlich, dass Leute sagen, die sind Beide für mich wählbar. Und es kommt ja noch ein Phänomen mit hinzu, was die Wahlforscher gut kennen, was in der Öffentlichkeit nicht so bekannt ist, obwohl man es spürt, glaube ich. Das die längerfristigen Bindungen an die Parteien in den letzten Jahrzehnten Schrittchen für Schrittchen zurückgegangen sind. Früher waren mal so dreiviertel der alten Bundesrepublik Wahlberechtigten fest, mehr oder minder fest in eine Partei gebunden. Die waren Anhänger der CDU/CSU, der SPD oder der FDP. Sie gehörten einem politischen Lager an. In der Zwischenzeit sind es in den alten Bundesländern nur noch 60 % etwa, d.h. 40 % sind parteipolitisch nicht gebunden. In den Neuen Bundesländern sind es sogar etwas über 50 %. Das ist die Hälfte parteipolitisch nicht gebunden, was dazu führt, dass Menschen wesentlich intensiver reagieren auf Schlüsselreize, die aus der Politik kommen, die aber parteipolitisch für sie nicht so stark besetzt sind wie das früher der Fall war. Also auf politische Streitfragen etwa. Auf das Auftreten eines Kandidaten beim Duell etwa im Fernsehen. Und auf diese Weise kommen erstens diese späten Entscheidungen zustande, wir haben häufiger Wechsel als es früher der Fall war, auch zwischen den politischen Lagern und schon 1994 ist eine Zahl, die ich sehr genau im Kopf habe, weil ich da drüber geforscht habe, haben sich vier Millionen Wähler zwischen 1994 und 1998 von den Unionsparteien zur SPD bewegt. Vier Millionen Wähler, die haben es dann erst überhaupt ermöglicht, das Rot-Grün ihr Rot-Grünes Projekt ermöglichen konnten, zusammen koalieren konnten. Die hatten aber alle eine große Koalition erwartet.
 
Gerd Appenzeller:
Wenn wir vor vier Jahren eine solche Veranstaltung durchgeführt hätten, bzw. wir haben ähnliche durchgeführt, wären wir wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, eine Börsenjournalistin zu bitten, dass sie sich hier oben mit hinsetzt und uns ihre Perspektive erklärt. Nun haben wir aber inzwischen die größte Wirtschafts- und Finanzkrise erlebt oder erleben sie noch seit den dreißiger Jahren vor Kohl. Wie erleben Sie die Auswirkungen dieser Wirtschafts- und Finanzkrise dieser bei Ihrer Arbeit auf den Börsen oder am Rande des Börsenparketts. Was kriegen Sie mit am Rande aus dem Publikum?

Anja Kohl:  Ich kriege ein schlechtes Gewissen. Also Krisengewinnerin. Ich danke für die Einladung. Hallo von meiner Seite. Schön, dass Sie alle so zahlreich gekommen sind. Ja, ich erlebe eine Polarisierung. Wir erleben es, dass Zuschauer zum einen sehr verunsichert sind, das Informationsbedürfnis ist sehr sehr hoch. Es gibt es viele Menschen, die an Themen interessiert sind nach wie vor und die mehr über diese Krise wissen wollen, sie verstehen wollen, wissen wollen, was heißt das jetzt alles für uns und in der Auswirkung auch für die Gesellschaft, für unser letztendlich ja, System. Und zum anderen erleben wir eine doch auch latente, wenn wir sie dann spüren, eine nicht geäußerte Aggression. Das heißt, es gibt ganz ganz viele Menschen, die das mittlerweile sehr Schwarz-Weiß sehen und da machen Sie eine Sendung über die Deutsche Bank. Das ist völlig egal, wie kritisch Sie das machen, es ist auch völlig egal, was Sie da sagen, Sie kriegen 100 % irgendeine Reaktion und irgendeine Zuschrift, dass die Deutsche Bank doch bitte überhaupt keine Gewinne mehr machen soll und Herr Ackermann nichts verdienen usw. Das klingt jetzt auch Schwarz-Weiß, aber das ist so das, was ich in meinem Journalistenalltag erlebe und ich muss ganz klar sagen, also eine gute Dekade mache ich das auch mit dem Themenfeld. Es findet eine absolute Polarisierung statt.

Gerd Appenzeller: 
Nun vermute ich Frau Kohl, dass diese Polarisierung nicht nur bei Ihnen spürbar ist, sondern dass diese Polarisierung bei Ihnen einen Reflex eine Allgemeinpolarisierung oder eine Allgemeinreaktion der Bevölkerung ist. Herr Professor Klische, wenn Sie diesen Wahlkampf nicht nur nach den politischen Aussagen, sondern auch unter psychologischen Gesichtspunkten betrachten und ihn mit früheren vergleichen. Was hat sich geändert in der Wählerschaft und im Verhalten der Politiker?

Thomas Kliche: Ich find den Wahlkampf unglaublich spannend und zwar vor allem, weil er nicht existiert. Diejenigen von Ihnen, die mehr Lebenserfahrung haben als ich, werden vielleicht meine Einschätzung teilen, wenn wir uns zurück erinnern, gab es eigentlich noch keinen Wahlkampf, der so Nichtwahlkampf war, der so unpolitisch war, der so gewollt an den wichtigsten Zukunftsfragen unserer Gesellschaft vorbeigeredet hat oder sie eigentlich gar nicht aufs Tablett gebracht hat. Ich glaube, was Markantes für diesen Wahlkampf ist, ist das die Parteien gar nicht so sehr Lösungen anbieten. Vielmehr versuchen sie verzweifelt die Diskussion über Lösungen zu vermeiden. Das hat zwei Gründe. Erstens, sie haben tatsächlich keine, sie haben sich in den letzten zwanzig Jahren systematisch abgewöhnt über Utopien nachzudenken. Schönes Beispiel: Ich warb für die Frankfurter Allgemeine im Hamburg am Hafen. Da gibt es so eine kleine Modellbauwelt. Ich kannte das nicht. Das ist aber die dritthäufigst besuchte Attraktion in Hamburg. Da fahren also auf vielen Quadratmetern irgendwelche Zügelein und die Kinder stehen davor, die älteren und die jüngeren, also auch die ganz alten und sind völlig begeistert. Da hatten die Parteien kleine Wunderwelten aufgebaut, wo sie ihre Utopien darstellen sollten, da ist Utopie, da sind die Zukunftsentwürfe in unserem Land geblieben. In kleinen winzigen Modellbauwelten. Die Parteien denken nicht mehr offen darüber nach, warum in uns allen auf eine schreckliche Weise vorbewusst und zum Teil auch sehr bewusst klar geworden ist, dass wir alle im selben Boot sitzen, und dass das Boot ziemlich viele Löcher hat. Eigentlich ist uns klar, nach der Wirtschaftskrise das diese Art zu wirtschaften Casinokapitalismus, wie immer man ihn auch nennen mag, extreme Risiken birgt für die gesamte Gesellschaft. Und eigentlich ist uns auch klar, Stichwort Klimagipfel, das wir im Grunde die Art von Luxus, die wir uns in den letzten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren zusammen gebaggert haben, aus der ganzen Welt, so nicht weiter leben können. Das wir ganz ganz einschneidende Veränderungen in unserer Gesellschaft vornehmen müssen, auch zwischen den Generationen. Und genau diese Angst spiegelt sich in verschiedenen Zahlen, die vergleichend über die Jahre erhoben werden, und die kurz vor Wahlkämpfen witzigerweise immer nach oben zeigen. Die höchsten Angstpunkte in unserer Gesellschaft, wenn man sie kumuliert, zeigen vor Wahlkämpfen immer nach oben und wenn es einen Regierungswechsel gibt, dann geht die Angst wieder zurück. Das war 98 so, das war 2003, 2005 so, und dann steigen sie wieder an. Es liegt daran, dass Wahlen, Politiker und Politikerin in unserer Gesellschaft so eine Art Psychotherapeuten geworden sind. Und dass das Einengende in diesem Wahlkampf eigentlich ist, das wir eine große gemeinsame Gruppendynamik haben, wie wir über unsere Angst möglichst wenig reden. Und die Polarisierung ist insofern eine Scheinpolarisierung. Die einzige Partei die offen sagt, wir haben große Konflikte in diesem Land, ist die Linke. Und die Linke wird kollektiv von allen anderen ausgegrenzt. Das ist eine Haltung, die sich in den nächsten vier Jahren ändern wird, aber das ist für diesen Wahlkampf aus meiner Sicht psychologisch markant.

Gerd Appenzeller:  Als Sie anfingen zu reden, hat Herr Jung sehr entschlossen, den Kopf geschüttelt, wollen Sie dieses Kopfschütteln verbal umsetzen, Herr Jung?

Matthias Jung: Ich will ihm doch jetzt nicht etwa widersprechen. Ich weiß  nicht, wo ich da anfangen soll? Ich glaube, man macht es sich da ein bisschen zu einfach, auf den Politikern rumzuhacken. Das ist sehr bequem und auch sehr leicht, auch zu sagen, dass die Politik keine Lösung wie z.B. die aktuellen Wirtschaftskrisen hat. Ich bin selbst gelernter Volkswirt und beobachte ab und zu mal die Zunft Derjenigen, die da volkswirtschaftliche Prognosen von sich geben und ich erlaube mir auch noch ein Jahr nach dem, oder ein knappes Jahr nach dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise einfach mal daran zu erinnern, was denn die ganze wissenschaftliche, ökonomische Zunft an Problemlösungen zur Hand hatte, während das Wirtschafts- und Finanzsystem kurz vor dem Kollaps stand, wer da gehandelt hat, wenn auch auf sehr bescheidenem Terrain und ohne jedwedes belastbare Fundament waren eben ein Herr Steinbrück und Frau Merkel, völlig ohne, ohne dass sie das abgedeckt hatten, einfach ein paar Sätze gesagt haben, die verhindert haben, dass in den nächsten Tagen die Bankkonten leer geräumt wurden, und das Finanzsystem zusammen gebrochen ist. Ist es ein Probemlösungskonzept ja oder nein weiß ich nicht, und dann mit den Utopien ist das ja alles ganz gut und schön aber wo haben wir denn eine Utopie, die wir denn da machen können und außerdem warum für was brauchen wir denn das eigentlich wirklich. Also da können wir dann schöne Bildchen malen und praktisch müssen wir ja konkret irgendwas machen, dass wir Systemzwänge haben, die natürlich alle einmauern ist auch ganz klar. Jeder wird es sich von den Parteien auch lieber z.B. eine absolute Mehrheit wünschen, weil er dann auf diese unsinnigen Kompromisse, die wir da erlebt haben, die ja auch das Ergebnis von Wählerquoten ja auch gewesen sind, gerade auch in dieser Koalition oder großen Koalition, ja von den beiden Koalitionären eigentlich in keiner Richtung, nicht nur bei der SPD sondern bei der Union auch nicht erwünscht waren und wir werden die nächste Regierung haben, ganz gleich welche, die werden auch wieder unsinnige Kompromisse machen, weil ja auch wir als Wähler nicht mehr bereit sind, ordentliche Mandate zu vergeben, die entsprechende Handlungsfähigkeit auch von Regierung wenigstens mal im Vierjahresrhythmus mal erlaubt sondern es soll ja und die Bürger sprechen sich und das ist ja ausweislich aller Befunde in allen wesentlichen Fragen für entschiedenes Sowohl als Auch aus. Wir wollen soziale Sicherheit plus Leistungsanreizforderung und und und es darf ja nicht unbequem werden und warum ist da dafür ausschließlich immer die Politik die schuld, da bin ich nicht so ganz mit einverstanden. Die Angstthese teile ich überhaupt nicht, weil die Befunde, was z.B. die wirtschaftlichen Ängste angehen, sind z.B. unmittelbar nach der Bundestagswahl 2002 nicht gesunken, sondern dramatisch hoch gegangen. Und seit der Zeit haben wir Einschätzungen, was die wirtschaftlichen Erwartungen angeht, die Niveau haben, die einfach relativ konstant ist, und uns auch relativ konstant durch vor und nach der Wirtschaftskrise geblieben ist. Da hat sich an den Befürchtungen der Menschen in ökonomischer Hinsicht auch wenig geändert. Genauso wenig wie sich geändert hat, als wir 2 Millionen Arbeitslose weniger in Deutschland gehabt haben, da ist auch nicht positiver geworden.

Gerd Appenzeller:
Ich möchte vielmehr die Herrschaften zur Rechten etwas fragen, anknüpfen an das, was Frau Kohl gesagt hat, nämlich die Polarisierung. Wir haben auf der einen Seite festgestellt, die Bindung an die Parteien, Herr Falter hat darauf hingewiesen, hat nachgelassen. Es gibt eine Polarisierung. Wovon machen denn die Leute das abhängig? Ob sie überhaupt wählen und wen sie wählen. Als Laie hat man den Eindruck, dass es oft höchst persönliche Betroffenheitsaspekte sind. Nämlich was nützt mir persönlich jetzt etwas, wenn ich eine Bindung an eine Partei habe, nehme ich das Eine oder Andere in Kauf, was mir nicht unbedingt gefällt. Ist das richtig und gibt es dafür Indizien und Anzeichen?

Anja Kohl:  Ja. Ich würde sagen, die Leute wollen eins, sie wollen keine Utopien. Sie wollen Lösungen jetzt. Und sie wollen eines vor allem anderen, nämlich Sicherheit. Und deswegen glaube ich auch, dass viele dazu tendieren werden, nicht zu wechseln, sondern das, was bisher war, vielleicht zu bestätigen und Sie haben den Casinokapitalismus angesprochen. Sie können das nicht auf einem Bierdeckel malen, aber sie können es in ganz ganz vielen Einzelschritten letztendlich versuchen, in die richtige Richtung zu lenken. Aber Casinokapitalismus legt nahe, als wären das nur Investoren irgendwelcher Spekulanten an Kapitalmärkten, die da für Unwesen sorgen. Sie haben es infiltriert im gesamten System. Und ich kann Ihnen eines sagen, als Journalistin macht es mir keinen Spaß, darüber zu berichten. Wenn Sie VW und Porsche haben, die agieren wie Casinokapitalisten, wenn Sie Scheffler haben, Casinokapitalist, wenn sie Märkler haben, Casinokapitalist. Es zieht sich durch alle Bereiche durch. Durch die Banken und durch unser eigenes Leben, weil wir bei Lidl und Aldi alle einkaufen und für 19,99 € fliegen wollen. Also insofern denke ich, Jeder will Lösungen, will aber nicht aus seiner Komfortzone heraus und ich denke, dass wir ein Riesenbedürfnis haben nach Sicherheit, und das die Wahl dementsprechend ausgehen wird.

Ged Appenzeller:
Die persönliche Betroffenheit kann man ja verbal noch etwas steigern. Ich es auch ein Stück Egoismus, der in dieser Betroffenheit zum Ausdruck kommt?

Jürgen Falter:  Es kommt immer darauf an, von welchem Modell der Erklärung des Wählerverhalten Sie ausgehen. Das klassische Modell. Das geht davon aus es gibt eine Trias von Parteibindungen einerseits, sie sind weniger geworden. Darüber habe ich gesprochen, von Kandidatenorientierungen und von Streitpunkten und der Frage, welche Streitpunkte für die Menschen wichtig sind und wem er für kompetent hält diese Probleme, diese Streitpunkte zu beseitigen. Das andere Modell ist das wirtschaftswissenschaftliche Modell. Das geht davon aus, dass wir sozusagen den Geldbeutel Perspektive nach Kosten und Nutzen entscheiden, das wäre ein egoistisches Modell. Und je nachdem von welcher Warte wir etwas interpretieren, haben Sie Evidenz, haben Sie Belege für das Eine und für das Andere. Das Modell, sagen wir mal, nach wir vor in der klassischen Wahlforschung nach wie vorherrscht. Das auch im Hintergrund der Forschungsgruppe Wahlen beispielsweise, die Herr Jung hier präsentiert, mitspielt, das auch bei meiner eigenen Forschung eine große Rolle spielt, ist das erstere Modell, also diese Trias-Parteibindungen, Kandidatenorientierungen, Streitpunktorientierungen. Und da ist als eine Konsequenz daraus, dass die Parteibindungen nicht mehr bei allen existieren, sondern nur noch bei etwas mehr als der Hälfte insgesamt, so 55 bis 60 %, natürlich sagen wir mal, der Raum stärker da dafür egoistisch zu entscheiden, wenn ich mal Ihre Terminologie übernehmen will. Also was nützt es mir, aus der Geldbeutelperspektive, was bringt es mir, welche Partei bringt mir mehr und jetzt kommt ein zusätzlicher Gesichtspunkt. Wir leben in der Zwischenzeit längst in einer Gesellschaft der Transferempfänger. Wir sind alle selber Transferempfänger außer den wenigen Selbständigen, die hier möglicherweise Rumsitzen. Als Transferempfänger in Form von Umverteilung aller Rentner, alle Pensionäre sind Transferempfänger beispielsweise. Alle Arbeitslosen,  Alle Hartz IV-Empfänger, alle Wohngeldempfänger usw. sind Transferempfänger. Wenn Sie das alles mal zusammen zählen, dann kommen Sie drauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der einen oder anderen Form, manche wissen es gar nicht, Transferempfänger sind. Und wenn dann die Frage entsteht, votiere ich für eine Partei, die sozusagen den Leistungsgesichtspunkt auf ihre Fahnen geschrieben hat und die FDP betont das ja immer wieder, dann weiß man, das wird eine Minderheitspartei bleiben und wenn man sich fragt, warum ist die CDU und vor allem die CSU so stark sozialpolitisch nach links gerückt, dann ist das genau der Nachvollzug einer Entwicklung, die wir in der Gesellschaft genommen haben, die Gesellschaft ist in ihrer Mitte in der Zwischenzeit, was die Erwartung an die Politik geht, „linker“ nämlich sozialdemokratischer geworden, und jede Partei die den Anspruch erhebt, tatsächlich einen Volksparteicharakter zu haben, die Stimmen maximieren will, die Wahlen gewinnen will, die den Kanzler stellen will, muss sich daran auch orientieren, sonst wird sie die Wahlen verlieren. Insofern, ja, Herr Turner.

George Turner:
Frau Kohl, wenn man das hört, was Herr Falter gesagt hat, dass was er eben in einem Jahr zusammengefasst hat, inwiefern hat dann das Verhalten einer Weniger, damit ich nicht in den Verdacht komme, hier pauschale Beschimpfungen vorzunehmen. Inwiefern ist das Verhalten einer weniger aus Ihrer Branche nicht aus der Journalisten- sondern Fachbranche dazu beigetragen, jetzt mal etwas konkreter, wenn Abfindungen in astronomischer Höhe eingesetzt werden, gleichzeitig im selben Unternehmen Entlassungen vorgenommen werden. Das ist ja, da brauche ich glaube ich, gar nicht zu fragen, eine Form von Egoismus. Inwiefern kriegen Sie das zu spüren und in welchem Umfang meinen Sie, hat das dazu beigetragen, dass wir die Situation haben? Haben Sie auch eine Lösung, wie man dem beikommen kann?

Anja Kohl:  Sie sprechen die Boni an, das ist ein Mosaiksteinchen in diesem System wo vieles falsch läuft, vieles falsch gelaufen ist, Abfindungen, Vertragskonstruktionen, die über 5 Jahre laufen. Das ist egal ob Sie ein halbes Jahr machen oder die gesamte Zeit. Sie kriegen zig Millionen. Das sind alles Entwicklungen, die falsch sind. Ganz klar, sehe ich als falsch an. Und aber die Aufgabe ist, der Unternehmer und Derjenigen, die sich solche Verträge ausdenken, wieder zur Vernunft zu kommen und wieder an Verantwortung gerecht zu werden. Und das kann man glaube ich nur schaffen, wenn man Manager und Unternehmer auch sitzen hat, die das wieder verinnerlicht haben. Und mittlerweile ist es ja so, das Manager eine Verweildauer haben in Großkonzernen von höchstens drei Jahren im Schnitt. Zum Teil sogar weniger. Zum Teil nur ein Jahr. Wenn man alle zusammen nimmt. Das ist sicherlich ein Punkt der ganzen Misere. Aber viel gewichtiger ist, es waren nicht einige wenige, es waren fast alle und es ist in, ja und da läuft das System schief, und wenn man merkt, da läuft was schief, da müsste man sich fragen, ob der Staat nicht handeln muss, sprich auch die Regierungen der Welt, weil man mit soviel reguliert und eingegriffen. Da gibt es ganz ganz viele Punkte. Sage ich gleich ganz kurz was zu, wo man eingreifen kann, es waren nicht einige wenige, es waren eben ganz ganz viele. Ich kann die Punkte mal nennen. Warum gibt es bestimmte Optionsgeschäfte, warum kann man sich anschleichen an Firmen über zehn Banken, um dann jemanden zu übernehmen, ohne das es der Finanzjournalist oder alle anderen mitkriegen. Warum gibt es nicht reglementierte Spekulationen an den Rohstoffen, bei Nahrungsmitteln gibt es eine Reglementierung, bei Öl gibt es das nicht, die Amerikaner denken jetzt darüber nach. Mal schauen. Warum gibt es Managerboni, wo es egal ist, ob man Verluste macht über lange Jahre oder Gewinne und letztendlich gewinnen die Menschen immer, weil die Vertragskonstruktionen so sind, dass es Boni, Longterm, Midterm, Intensive, Tantieme und eine Vertragskomponente von 30 Einzelpositionen gibt, wo es egal ist, weil die Manager können nur gewinnen, warum gibt es so was? Das gibt es ganz ganz viele Dinge, die man ganz konkret regeln kann. Ich mache gleich einen Punkt, was ich jetzt feststelle, man hört es aus Amerika, es gibt jetzt Lobbygruppen die entgegenwirken und Herr Obama will vielleicht was machen und dieselben Lobbygruppen sind wieder da und wirken drauf ein, dass bestimmte Dinge nicht stattfinden. Das sind auch Banker rund um Goldmann Sachs, wo jeder weiß, dass der politische Einfluss immens ist, wo zum Teil natürlich Politiker dann wieder danach in die Banken gehen und lukrative Jobs bekommen und diese Verquickung ist überall vorhanden und die haben sie auch hier, einfach dieses sofortige Einflussnehmen von Lobbygruppen, die dann wieder was anderes wollen, und letztendlich auch den Fortschritt involvieren wollen.

Gerd Appenzeller: Umso wichtiger sind Sieger, auch Journalisten um das aufzudecken. Es gibt das Fachgebiet Ethik in der Wirtschaft. Nun haben wir ja in Hamburg. Aus der Stadt, aus der Sie kommen, in der Nord LB und dortigen Nonnenmacher, wo fürstlich dafür bezahlt wird, dass er nicht geht. Das hat große Kritik ausgelöst. Das muss man wissen, Herr Nonnenmacher ist Honorarprofessor in Heidelberg. Also Ethik in der Wirtschaft wird gelehrt in dieser Praxis. Wie finden Sie das?

George Turner:  Die Frage ist ja fast zu trivial, wie ich das finde. Was ich spannend daran finde, ist, dass wir jetzt doch auf lauter Punkte gekommen sind, wo wir eigentlich nicht sicher sind, wie gut wir uns noch auf unser System verlassen können, und wie dick das Eis ist, auf dem wir stehen. Denn wenn die wirtschaftlichen und politischen Eliten wirklich so unzuverlässig agieren, wie Frau Kohl das eben beschrieben hat, dann ist das ja gar keine so einfache Aufgabe mehr. Wir haben vor drei Monaten von der politischen Psychologie eine Tagung über Korruption gemacht. Ich finde das Thema immer sauspannend. Gerade deshalb, weil wir Korruption in der Form finden, weder in der Wirtschaft noch übrigens auch in der Wissenschaft. Korruption im Gesundheitswesen, ist ein enorm großes Problem in diesem Land. Nicht mehr in der Form finden, dass da Leute sich irgendwie schmuddelige Umschläge zuschieben, sondern in der Form, dass ganze Berufsgruppen sich so organisieren, dass sie quasi kollektiv deviant werden. Also das sie gewissermaßen das Gesetz brechen und sich auch gegenseitig ein bisschen den Rücken freihalten. Und dann wird es gefährlich. Und da sind wir jetzt bei den Lösungen, Nein, kein Missverständnis Herr Jung, es war keine Politikerschelte, sondern das Problem ist ja, das wir in dieser Art von Praktiken verstrickt sind, das wir ja auch kleine Entscheidungsträger sind im Alltag. Ich will jetzt nicht über meinen Alltag reden aber dass unsere Spielräume davon leben, was wir als Norm und Regeln vorgesetzt kriegen, auch eingeschränkt werden, und dass wir uns natürlich jetzt angucken, gut die liefern uns technische Lösungen. Das sind Lösungen. Ja, die Menschen wünschen sich Lösungen. Aber reicht das denn? Und wenn ich jetzt das Stichwort Angst jetzt mal auf diesen Punkt Armut Desintegration erweitern darf, nein das reicht nicht, auf der einen Seite haben wir die Leute mit den irrsinnigen Boni und auf der anderen Seite haben wir inzwischen solide Evidenz, also aus den Forschungsprojekten in Bielefeld und Jena. Auch wenn die Politologen vielleicht noch nicht angekommen sind. Dass in unserer Gesellschaft die Angst dadurch zunimmt, dass Menschen sich zunehmend vom sozialen Abstieg, Ausgrenzung und nicht mehr Dazugehören bedroht fühlen, und zwar selbst die, die noch dazugehören. Wenn Sie in Betrieben eine Entlassungswelle machen, dann haben Sie nachher ein erhöhtes Angstniveau in der Belegschaft auch bei denen, die überlebt haben. Die wissen nämlich, wie es geht. Das sind einfach ganz harte, ganz offizielle Zahlen und das setzt sich natürlich hinein fort in eine Politik, die genau für diese Befindlichkeiten überhaupt keine Angebote mehr hat. Die da einfach ratlos ist und technische Lösungen anbietet. Und das freut uns. Wir werden darüber ja erstmal versichert, es könnte so weiter gehen, wie bisher. Aber die Angst bleibt trotzdem, die Erfahrung bleibt trotzdem. Die lässt sich nicht Kleinreden. Sie führt zu einem Affekt, auf den ich bei diesen Wahlen sehr gespannt bin. Die armen Menschen gehen nicht mehr zu Wahl. Wer sich in dieser Gesellschaft ausgegrenzt und an den Rand geschoben fühlt, der denkt auch, dass er in diesem Land keinen Einfluss mehr hat.  Wir Psychologen sprechen von Selbstwirksamkeitserwartung. Selbstwirksamkeitserwartung beispielsweise von Langzeitarbeitslosen wird dauerhaft beschädigt, die haben nachher nicht mehr das Gefühl, das sie selbst was auf die Reihe kriegen, d. h. gerade Diejenigen, die sich mobilisieren sollten, das war der strategische Fehler bei der SPD. Das gab es in dieser Form, in diesem epidemischen Ausmaß nicht. Die kommen nicht mehr. Gerade Diejenigen, die eigentlich Einfluss nehmen sollten, um sich geltend zu machen, die bleiben weg. D.h. übrigens für Sie alle, für Sie alle, wenn Sie auch so was, wenn Sie zur Wahl gehen, wie eine soziale Verantwortung gegenüber Denjenigen haben, die keine Stimme und keinen Mut mehr haben. Ganz unter uns.

Gerd Appenzeller: Das war keine Wahlempfehlung! Herr Jung, wir haben auf der einen Seite gehört, die persönliche Betroffenheit, also sogar egoistische Überlegungen und Motive können entscheidend sein, auf der anderen Seite gibt es die Erscheinung der Kluft zwischen der Zustimmung zu einer Person, die groß sein kann, und die fehlende Zustimmung zu der Partei. Passt das zusammen?

Matthias Jung:
  Ich will vielleicht noch eine kleine Anmerkung zu dem Thema Wirtschaft machen, weil es natürlich auch da wieder schick ist, unentwegt auf den Managern oder auf den Unternehmen herumzureiten und wenn wir einfach mal die Wirtschaftsberichtserstattung uns anschauen und die Wirtschaftsteile qualifizierter Zeitungen aufschlagen. Dann haben wir dort eine unentwegte Berichterstattung über Daxunternehmen, wenn wir Glück haben, auch noch über M-Dax und damit berichten wir über absolute Minderheiten von Unternehmen, Arbeitsplätzen und wirtschaftlichen Aktivitäten. Das hat z.B. zur Folge gehabt, um mal die Situation vor der Wirtschaftskrise aufzunehmen, dass wir zwei Millionen Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen haben oder geschaffen wurden in diesem Land. Aber gleichzeitig natürlich bei den 30 Dax-Unternehmen weiterhin Arbeitskräfte abgebaut worden sind. Wenn ich mir die Berichterstattung in den Wirtschaftsmedien anschaue, dann kann das gar nicht stattgefunden haben, und das 2 Millionen Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen worden sind in Deutschland, weil diejenigen Unternehmen, die unentwegt im Focus der Wirtschaftsberichterstattung stehen, die kommen da gar nicht vor, weil sie schlicht und ergreifend die kleinen, mittelständischen Unternehmen, Handwerksbetriebe und sonst was, die diese Arbeitsplätze geschaffen haben, und zwar dort wo wir eben halt Unternehmer haben statt Manager. Es ist ja nicht nur die hohe Fluktuation und die Mobilität auf den hohen Managerpositionen sondern wir haben in den größeren Unternehmen die kleinen Abteilungsleiter, die wechseln ja auch nach 4 Jahren, dann sind sie wieder weg oder wechseln sogar die Unternehmen, dass keiner für den Unfug, selber die Birne hinhalten muss, wenn er dann nach seiner eigenen Umstrukturierung dann wirksam wird sondern er geht dann wieder zum nächsten Unternehmen, macht wieder eine Umstrukturierung und bis er dann das ausbaden muss, was er selber umstrukturiert hat, ist er wieder weg, also das ist der Mobilitätswahn in der Gesellschaft

Gerd Appenzeller:  Unternehmensberater zwischendurch.

Matthias Jung:
Manche werden auch noch Unternehmensberater, die dann noch nicht mal mehr, die haben dann immer wieder neue Kunden. Das nur mal als Anmerkung, eines Menschen, der selber mittelständischer Unternehmer ist, und der gar nicht auf die Idee kommt, wenn es ökonomische Probleme gibt, seine Leute, mit denen er arbeitet, als erstes mal vor die Tür zu setzen, wo das die Ultimoratio ist, wo man irgendwie dann ganz bankrott geht, um auf so eine Idee zu kommen. Zum Glück gebe ich zu, dass wir noch nie in der Situation hier waren, wo sich noch eine andere Frage stellt, nämlich nach dem Auseinanderklaffen von Parteipräferenzen und Präferenzen für Personen, also in dem Fall Spitzenkandidaten, Kanzlerkandidaten. Das macht ja eigentlich die Situation aus, die wir dann als Wahlkämpfe bezeichnen, gerade wenn wir uns 2002, 2005 und auch gerade jetzt 2009 wieder anschauen, dass die Wahlkämpfe ja ganz wesentlich die Funktion haben, auch wenn es dann wieder nicht um Utopien geht, dass nämlich diese kognitiven Resonanzen, die bei den Leuten im Hinblick auf Themen, auf Personen und auf ihre Sozialisationen bestimmten Parteikontexten  oder millieus politischen Kontexten, die dann ein Stück weit auseinander läuft. Im Laufe des Wahlkampfs so sortiert wird, dass das wieder zusammenpasst. Und wir haben wieder 2002 auf der Personenwahrnehmung, eine Wahrnehmung eines Schröders, der ausgesprochen interessant, sympathisch wertgeschätzt worden ist. Wir haben eine Kompetenz in den wichtigen Fragen die Ökonomie die eher bei Stoiber lag. Die Leute haben Schwierigkeiten gehabt, das zusammen zubringen. Und dann sind eben im Laufe des Wahlkampfs Themen generiert worden, Wie Irak-Krieg, der kognitive Harmonie wieder herstellen konnte. Das nämlich noch andere Themen wichtig waren, als Wirtschaftskompetenz. Wir haben durch die Gnade der Oderflut, eine Betätigungsmöglichkeit für eine Regierung gehabt, der man Handlungsunfähigkeit vordiagnostiziert hatte und damit die Konten die Menschen eben wieder zur Deckung bringen, da sie Schröder eben viel sympathischer fanden, und dann anschließend auch wieder sagen konnten, ja es gibt auch Themen bei denen er kompetent ist und damit war dann die Wahlmöglichkeit für die SPD 2002 wieder herzustellen. 2005 haben wir Ähnliches gehabt, obwohl die Unzufriedenheit sehr hoch mit Rot-Grün gewesen ist und Schröder eigentlich ja schon fast abgedankt hatte, aber trotzdem immer noch der interessantere Kandidat war, auch da man der CDU mehr zugetraut hatte, aber dann eben mit Kirchhof mit der ganzen Debatte plötzlich auch soziale Kälte auch spürbar geworden ist bei der Wählerschaft, ging das auch wieder nicht mehr zusammen. Und dann hat man sich auch entschieden, für ein starkes Sowohl als Auch. Und die Wähler haben im Prinzip das hergestellt programmatisch, was die Union versäumt hatte, nämlich sowohl die soziale Sicherheit als auch die ökonomische Dynamik zu repräsentieren in sich selbst heraus in ihrem Auftrag auch als Volkspartei und gemäß auch ihren Traditionen mit den verschiedenen Quellen. Das war ja auch die Lehre, die Merkel daraus gezogen hat, was die Neupositionierung der Union oder die Wiederzurückpositionierung der Union auf ihre traditionelle Grundlagen eigentlich zur Folge hatte und jetzt erleben wir eben auch die Situation, das halt ein sehr großer Prozentsatz der Bevölkerung Merkel wieder als Kanzlerin haben will, bis noch in der letzten Woche auch nach dem wie immer erfolgreichen Abschneiden eines oder in den Erwartungen jedenfalls übertreffenden Außenseiters in einem TV-Duell sind nach wie vor ein Fünftel der SPD-Anhänger übrig geblieben, die immer noch der Meinung sind, dass sie lieber Merkel als Steinmeier haben wollen, und die haben ein Problem, und dieses Problem müssen sie entweder geregelt bekommen bis zum Sonntag, dass sie entweder jetzt Merkel doch besser finden, und deshalb etwas wählen, was dazu führt, dass Merkel Kanzlerin wird oder dass sie eben dann Steinmeier jetzt doch so nett finden, dass sie dann eben wieder ihre dann wieder ihre SPD-Präferenz zum Tragen bekommen. Das sind momentane Situationen, das unterscheidet sich von 2002 oder 2005 oder davor noch, dass wir sehr spät noch sehr viel kognitive Dissonanz in der Wählerschaft haben im Hinblick auf diese Faktoren und deshalb haben wir auch noch viele Probleme und es wird auch ein wesentlicher Beitrag dazu sein, dass auch die Wahlbeteiligung zurück geht, weil wir in dem Bereich der Mitte, und darunter wird auch die SPD ein Stück weit zusätzlich leiden, wir eine ungeregelte Angelegenheit haben, das sind nicht die Hartz IV und Diejenigen nicht ein Armutsproblem haben, die werden ja bei der Linkspartei gebunden, da gibt es überhaupt kein Problem. Wenn sie gebunden werden wollen, sondern es sind die Aufstrebenden und die der bürgerlichen Welt hin Wohlgesonnenen SPD-Anhänger, die von der SPD heute nicht mehr in dem Maße repräsentiert werden, wie sie sich fühlen, wie sie eben unter Schröder repräsentiert worden sind, der die SPD eben für die Mitte geöffnet hat. Aber vergessen hat das programmatisch für die SPD ins Programm zu schreiben und deshalb die SPD das wieder vergessen hat, was die Erfolgsgründe, warum sie mal an die Regierung gekommen ist. 

Gerd Appenzeller: Also ich bin jetzt eigentlich ganz nah an einer persönlichen depressiven Phase, obwohl ich eigentlich nicht dazu neige. Thomas Kliche erzählt uns, warum die Langzeitarbeitslosen nicht mehr wählen, weil sie keine Perspektive für sich sehen und er rät uns, die wir wählen wollen, wir sollen den sozialen Gesichtspunkt im Hinterkopf haben, was für mich schwierig wäre, wenn ich FDP wählen wollte, weil ich persönlich FDP wählen will, aber die FDP nicht für die sozialste Partei Deutschlands halte.  Dann erklärt uns Matthias Jung, das wir in der Wirtschaftsberichtserstattung sowieso alles falsch machen, weil wir die falschen Unternehmen im Wirtschaftsteil haben und wir sollten mehr machen über die kleinen Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, was im Prinzip richtig ist, da stimme ich Ihnen zu. Nur Sie wissen selber, Gesichter machen Nachrichten, Ackermann lässt sich gut verkaufen, lässt sich auflagenwirksam verkaufen, sage ich jetzt mal so. Der Meisterbetrieb etwas schwieriger. Dann sagt uns Anja Kohl, dass wir im Grunde ja eigentlich alle Casinokapitalisten sind. Sie verurteilt zwar die Großkopfeten da oben, die die schlimmsten sind, aber alle hätten wir so den Hauch dieser Mentalität drin. Stimmt, ist ja leider wahr, Frau Kohl. Ist ja leider wahr. Bloß was lerne ich aus all dem? Ich wüsste jetzt gerne mal von den drei Herren, wie stellen Sie sich eigentlich die Politik vor, die sich den Wählern präsentieren sollte, vier Tage vor der Wahl, damit der Wähler eine Chance hat, vernünftig zu entscheiden. Und von Frau Kohl wüsste ich gerne etwas anderes, weil Sie sind keine Politologin, das wäre unfair. Sie werden täglich mit den Auswirkungen der Finanzreform konfrontiert. Sie kriegen auch zu spüren, wie sehr die deutschen Maßnahmen dagegen wirken, also das berühmte Dole-Duo Steinbrück-Merkel, wie das funktioniert. Was kriegen Sie aus dem Ausland für Reaktionen? Kriegen Sie aus dem Ausland Reaktionen, dass sie das Gefühl haben, ach, da haben die in England, Frankreich, Spanien, Italien, Amerika aber auch was ganz Kluges gegen die Krise entdeckt, was die Deutschen auch hätten machen können oder sind wir tatsächlich so solitär klug. Ich würde jetzt gern mit den Herren mal anfangen. Herr Kliche, fangen Sie doch bitte mal an:

Thomas Kliche:  Aber gern. Da sind wir doch genau bei meinem Lieblingsthema.

Gerd Appenzeller:
Aber trotzdem nur drei Minuten bitte.

Thomas Kliche: 
Kurzfristige Lösungen sind kurzfristige Lösungen. Was sie anfordern, ist genau die Utopie, von der ich geredet habe. Also offenbar sind wir dann tatsächlich dann doch soweit, dass wir über langfristige Lösungen in anderer Weise nachdenken und das Schlüsselproblem ihrer Frage war, die Formulierung vor der Wahl. Vier Tage vor der Wahl kann man eigentlich nur noch versuchen, mit sozialtechnischen Mitteln sich so günstig zu präsentieren, dass man möglichst viele kognitive Dissonanzen reduziert und damit Wähler, Wählerinnen an sich zieht und taktisch reagiert. Das Problem ist, dass wir glaube ich in ganz anderer Weise langfristig über solche Fragen nachdenken müssen. Wirklich, auch wie stellen wir Gesellschaft auf? Und das ist in unserem Land ein Tabu geworden, das Herr Jung auch sehr schön beschrieben hat, mit der Formulierung, wo haben wir denn Utopie, was können wir denn machen? Eine die wir machen können. Nein, es ist keine mehr da. Nichts als das, was der Fall ist, ist uns übrig geblieben und das bedeutet, wir müssen in ganz anderer Weise uns noch mal zurücklehnen und wir dürfen den Wahlkampf nicht nach der Wahl beenden. Sondern wir müssen den Wahlkampf ernst nehmen, neue Fragen stellen und vielleicht auch sagen, vier Tage vor der Wahl gibt es da keine intelligente Lösung dafür, mit der wir das Problem nicht verschlimmern. Denn die Leute spüren ja, wenn sie ein bisschen manipuliert und ein bisschen eingeschläfert werden. Das ist ja die Quelle, eine der Schlüsselquellen, für die Politikverdrossenheit, die zu einem zunehmenden Anteil von Menschen führt, die nicht mehr zur Wahl gehen, da gibt es auch andere Fraktionen, wird Herr Jung gleich einwenden. Richtig, die Bedachten, die Zufriedenen, richtig, die Dessinformierten, wobei es vielleicht ganz gut ist, wenn sie nicht unbedingt ihre Stimme abgeben. Aber da liegt ein Kernproblem. Und wir haben in unserer Gesellschaft eine Instanz, die dafür zuständig ist, nämlich Parteien und Politik. Und wenn die das nicht mehr hinkriegen, bedeutet es auch, dass Politik im Grunde, durch die Art, wie sie gemacht wird, ihre Würde verloren hat. Nämlich die Kraft und Bereitschaft zur Gestaltung. Und das ist das fundamentale Problem und deshalb bin ich so dumm und so einfältig, wieder von Utopien zu reden.

Gerd Appenzeller:
Wenn ich Sie dazu fragen darf, wenn wir auf der einen Seite gesagt haben, der Wähler verhält sich so, dass man ihm das Etikett Egoismus anheften kann. Und Sie sagen jetzt, die Politik müsste etwas gestalten. Ich bin weit davon entfernt, eine Politikerschelte davon zu machen. Nur wenn Sie sich die Kandidaten weiter ansehen, dann geht es doch für die höchst egoistisch da drum, ihren fehlenden Beruf durch ein Mandat zu ersetzen. Ich habe das gar nicht mal so zynisch gemeint, sondern es gibt ja manchmal auch Formulierungen, die treffen unbeabsichtigt. Wenn Sie den heutigen Tagesspiegel in die Hand nehmen, ich hoffe, das haben Sie bereits getan, da gibt es ein geradezu klassisches Beispiel, dass ich Ihnen natürlich nicht nennen kann, weil ich mir sonst ein Verfahren einhandele. Sie wissen, was ich meine. Ich habe es noch nicht genannt. Ist das nicht ein Problem, dass wir dort eben eine Kaste haben, die jedenfalls in der großen Masse dann denkt, wie komme ich über die Runden, wie erreiche ich das nächste Mandat um auch persönlich abgesichert zu sein? Ich meine jetzt wirklich ausnahmsweise nicht zynisch, ist das nicht ein Problem, dass wir zuwenig Leute haben, die in dem Sinne wie Sie es gesagt haben, denken und dann eben auch Konzepte entwickeln und vielleicht sogar auch Visionen haben? Ist das an mich? Sie brauchen nur ja zu sagen. Dann kommt nämlich Herr Jung dran.

Thomas Kliche:  Ich könnte auch noch etwas dazu mehr sagen. Und viele von diesen Politikerinnen und Politikern, nein ich bin fern von Politikerschelte, sind fleißig, sind integer, wälzen wahnsinnige Aktenberge, nehmen wahnsinnige persönliche Lasten auf sich, Stichwort Trennung von Familie und Arbeitsplatz, um irgendwie was voranzubringen. Und sind oft nach Jahren dann, verzweifelt und bitter, mir hat mal eine Sozialministerin, die ich sehr sehr achte, gesagt, Thomas, jedes Volk hat die Regierungen einer Demokratie, die es verdient. Und das sind wir wieder bei der Kollision. Dieser Verquickung von dem was wir machen und wollen und was die Politiker machen, wenn wir sagen wir wollen da grundsätzlich Fragen stellen und wir müssen die stellen, dann werden die auch reagieren, genau weil ihr Job davon abhängt. Ich sehe übrigens eine große Ressource in unserer Gesellschaft, die jetzt ein bisschen seltsam hier reinkommt, nämlich altern. Wir haben ja das erste Mal eine Mehrheit, die über Fünfzig ist, die wählt. Das sind Leute, die haben immer höhere Bildung, die haben immer mehr Zeit, die haben immer mehr Lebenserfahrung, die sind immer gesünder durch die Mortalitäts- und Mobilitätskompression, jetzt spricht der Gesundheitspolitiker oder Gesundheitsforscher, und die könnten da was einbringen. Also ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren einen Aufbruch in der Politik erleben werden, weil es so wahrscheinlich nicht weiter geht. Das Gefühl haben wir alle. Und das es Gruppen geben wird, die das aktiver vorantreiben werden, und ich sehe die im Moment nicht bei meinen Studies. Das muss ich ehrlich sagen. Aber es könnte andere Gruppen geben. Stichwort: Alte Menschen haben viel Erfahrung und haben viel Zeit und haben viel Wissen.

George Turner: 
Herr Jung, ich sag dann gleich mal nein wieder. Ich glaube, wir haben in der Tat das Konfliktpotential was im Generationenkonflikt liegt noch nicht erfasst. Und zwar im Hinblick auf seine Sprengkraft. Was das nämlich stattfinden, sie haben völlig recht, dass es jede Menge Kapazitäten und Ressourcen gibt, dass man da auch noch intelligentere Formen der Nutzung dieser Ressourcen auch in den Phasen einbringen kann, ich will jetzt gar nicht ehrenamtliches Engagement oder andere Beteiligungsformen da ansprechen, die da schon seit langer Zeit strapaziert werden. Aber Sie können und Sie finden das ja auch bei den Fragen über Rentenerhöhungen, was für eine Wut wir da erlebt haben, weil wir z.B. keinen Inflationsausgleich bei den Renten gehabt haben, zeichnen Sie das einfach mal weiter fort, was dabei für Probleme einfach eintreten und das werden Sie nämlich genau an den Wahlurnen zu spüren bekommen. D.h. wir haben einen zukünftigen gesellschaftlichen Verteilungskampf, der nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit wie in den vergangenen Jahrzehnten besteht sondern er wird zwischen denjenigen bestehen, die das Bruttosozialprodukt erwirtschaften, die immer weniger werden und die auch eine Minderheit dann darstellen werden, die politisch kontrolliert und bestimmt werden. Das werde dann auch ich mit sein mit dieser Generation, die da drüber mehrheitlich entscheiden, was diejenigen, die die Arbeit erbringen, an diejenigen bezahlen müssen, die nicht mehr arbeiten. Und das heißt, wir bekommen eine Steuerung, die ist völlig absurd. Sie können das schon in den einzelnen größeren Kommunen auch empirisch nachweisen. Wo Sie repräsentative Wahlstatistiken haben, sie haben eine Kommunalwahl in Frankfurt schon vor ein paar Jahren gehabt, wo die Mehrheit der Wähler aus dem Bereich der über 60ig-Jährigen gekommen ist. Und wenn Sie das einfach demografisch fortschreiben, in zehn Jahren nehmen, dann werden Sie bei jeder Bundestagswahl, sogar bei Wahlen mit niedriger Wahlbeteiligung eine Mehrheit der Nicht-Erwerbstätigen und zwar der im Nicht-Erwerbstätigen Alter haben, von den ganzen Hausfrauenständen ganz abgesehen, die einfach mehrheitlich dann bestimmen, wohin das Geld, was die Anderen dann erwirtschaften, denn verwendet werden, und die werden sich das dann auch nicht mehr gefallen lassen. Und da kommen Sie ganz schnell auch in Fragen, wo dann ganze Generationen, die sich ausgebeutet fühlen, die dann auch anfangen das Mehrheitsprinzip werden in Frage zu stellen und dann bekommen wir Legitimationsprobleme, von denen wir heute noch gar keine Ahnung haben, da können Sie dann eine schöne Utopie aufmachen und alle Alten helfen, der Gesellschaft voranzukommen. Viel Spaß dabei. Pragmatische Lösungen werden es keine sein.

Gerd Appenzeller:
  Aber Sie werden eine Prognose dazu abgeben, Herr Jung.

Matthias Jung:
Wenn nicht die Generation von Frau Kohl vorher ausgewandert ist. Das muss man nämlich auch mal sehen.

Anja Kohl: Also soll ich was sagen?

Jürgen Falter: Zu Ihrer Ausgangsfrage. Die Ausgangsfrage war, die uns gestellt worden ist, von Herrn Appenzeller.
Was erwarten wir vier Tage vor der Wahl, von der Politik und den Politikern? Es ist ein bisschen abgedriftet in der Zwischenzeit aber ich möchte doch auf die Frage noch mal zurückkommen. Und zwar, könnte man die auf zweierlei Weise beantworten. Die eine Weise wäre die, des Staatsbürgers in mir, und ich bin sicher, dass ich dann Ihren Beifall bekommen werde, und die zweite ist die des Wissenschaftlers in mir und da bekomme ich keinen Beifall von Ihnen. Fangen wir mal mit den beifallträchtigen Aspekten an: Der Staatsbürger in mir verlangt dafür, von der Politik, dass sie mir ehrlich sagt, wie sie die Probleme sieht, wie sie sie bearbeiten will und was uns nach der Wahl erwartet. Ganz klar. Das sie ganz ehrlich das sagt, z.B. wie Angela Merkel das 2005 ja mal versucht hat. Der Wahlforscher hat damals schon gesagt, tun Sie das um Gotteswillen nicht. Die Bürger verlangen von Ihnen, dass Sie absolut ehrlich sind, und wenn Sie es sind, werden Sie abgestraft. Und das ist leider eine Diskrepanz, in der die Politik lebt und aus der sie so leicht nicht herauskommt. Warum kommt sie nicht raus? Das liegt an unserem Parteiensystem, an unserem Wahlsystem. Unser Parteiensystem, verbunden mit dem Wahlsystem erlaubt den Politikern nicht, nämlich vor der Wahl lediglich Absichten zu äußern, und zwar Absichten, Versprechungen zu geben, die Sie einhalten würden, wenn sie sie könnten, nämlich wenn sie alleine regieren könnten. Jede Partei ist nur in der Lage, vor der Wahl bei uns zu sagen, was sie tun würde, könnte sie allein regieren, das gilt selbst für die FDP und die Grünen, obwohl es eine völlige Utopie ist. Ja. Nach der Wahl müssen die Koalitionen schließen. Und in den Koalitionen werden Ihnen sozusagen die Zähne der Versprechungen gezogen. Da müssen sie den Kompromisse dann eingehen, in den Koalitionsverhandlungen, die uns dann alle als Staatsbürger wieder so verärgern. Wir nehmen den Politikern das übel, dass sie nicht anders können. Das ist das Hauptproblem dabei, wir können tatsächlich die Politiker nicht beim Wort nehmen, bei dem, was sie vor der Wahl sagen, weil das System es ihnen nicht erlaubt, nach der Wahl das zu realisieren, was sie vorher gesagt haben, sie müssen so tun, als würden sie alleine regieren, damit wir überhaupt den Parteikern erkennen, den sie repräsentieren. Dieser Parteikern kann sich aber im Allgemeinen nicht durchsetzen. In großen Koalitionen kann er sich überhaupt nicht durchsetzen, sondern das ist die Koalition der großen Kompromisse. Das haben wir gemerkt und das werden wir wieder erleben, falls es zu einer Neuauflage kommt. Und das ist ein System mangelnder Transparenz, mangelnder Verantwortlichkeit, und ein System das tatsächlich Politikverdrossenheit, Parteienverdrossenheit, Politikerverdrossenheit produziert. Und wenn man etwas ändern will, muss man das System ändern. Und das System kann man nur ändern, glaube ich, indem man Parteien wieder verantwortlich machen kann, und das kann man nur, mit einer Änderung des Wahlsystems. Nur in Bayern konnten sie die ganze Zeit eine Partei verantwortlich machen. Die CSU hat nämlich dauernd die absolute Mehrheit gehabt. Die durften sie beim Wort nehmen. Die ist auch abgestraft worden dann, nachdem sie auch nicht gehalten hat, was sie versprochen hat. Nein, aber in einem System, wo klare Mehrheiten sind, wo es Regierungsaufträge gibt, durch Wählermehrheiten, da kann man tatsächlich die Politik beim Wort nehmen. Mit unserem System nicht. Das sehe ich als absolut verderblich, als gefährlich an, als an den Kern der Demokratie gehend, weil sie sich bei jeder Wahl wiederholt.

Gerd Appenzeller: Frau Kohl, jetzt würden wir gerne von Ihnen als Staatsbürgerin und als Journalistin hören, ob sich das deckt.

Anja Kohl:
Man müsste jetzt genau erörtern, wie das Wahlsystem geändert werden soll. Aber ich halte es für einen Fehler, dass eben Politiker nur für so kurze Zeit gewählt werden, was ja ähnlich ist, wie die Anreizsysteme in der Freien Wirtschaft, die ja auch nur über sehr kurze Perioden gehen. So ähnlich ist es mit den Wahlperioden. Meines Erachtens sind die zu kurz, als man da wirklich eine längerfristige Politik planen könnte, finde ich. Also es müssen ja nicht gleich zehn Jahre sein, aber vier ist schon sehr kurz.

Jürgen Falter:
Jedes Jahr ist zuviel, dass sie mehr kriegen, weil wir dann nämlich nicht mehr kontrollieren können.

Anja Kohl:  Gut, kann man drüber streiten.

Jürgen Falter:
Das ist ein technokratischer Gesichtspunkt den sie haben, aber kein Demokratisch haltbarer.

Anja Kohl: 
Ich sehe nur, dass wir einen Wahlkampf machen, ohne Thema.

GeorgeTurner: Die Möglichkeit dran zu erinnern, was ich Frau Kohl eigentlich gefragt hatte, was sie versucht zu beantworten, nämlich die Frage, ob sie bei ihrer Tätigkeit als Börsenjournalistin aus anderen Ländern Erfahrungen gesehen und gehört hat, wie man mit dieser Krise umgeht, von der sie sagen würde, das wäre auch nicht schlecht, wenn wir das in Deutschland anwenden würden.

Anja Kohl: 
Wenig muss ich sagen. Also die Niederländer versuchen ja jetzt gerade bei den Vergütungen von Managern wirklich da harte Hand walten zu lassen und das auch abhängig zu machen, sehr stark, ob wirklich Gewinne erzielt werden, und zwar über längere Jahre, also die sind da jetzt dran, und wollen das wirklich auf die Füße bekommen. Ansonsten sehr wenig. Also in Großbritannien merkt man ja, dass das ganze Land nur von den Finanzen gelebt hat, Immobilien sind ja auch Finanzen. Also mein Lieblingswitz ist ja, welches ist der größte Hedgefonds der Welt? Großbritannien. Sie haben kein Geschäftsmodell, sie haben keine Industrie und dieses Land hat eben das Problem überhaupt keine Zukunft wirklich denken zu können, ohne die Finanzen. Aus Amerika gibt es Ansätze, das hatte ich ja Eingangs schon geschildert. Man kann Finanzgeschäfte sicherlich reglementieren und bei einigen würde es Sinn machen. Wir hatten im Zuge der Krise und zwar unmittelbar nach Lehmann, die Situation, dass in Amerika, auch bei uns, die Optionsgeschäfte auf Bankaktien unterbunden wurden. Die hat damals keiner vermisst, weil jeder war froh, dass es nicht entglitten ist. Man kann schon Optionsgeschäfte einschränken und könnte das sicherlich auch längerfristig, nur das Problem ist natürlich, Finanzmärkte agieren global und man müsse das in einer konzertierten Aktion machen. Das andere sind eben auch Geschäfte wie auf den Rohstoffmärkten, da gibt es eben Reglementierungen, wie gesagt bei Nahrungsmitteln, das könnte man sicher ausweiten auf andere Rohstoffe. Es wäre sicher möglich, wenn alle das wollen würden im Sinne von der globalen Wirtschaftslage und der Sicherheit, die damit verbunden wäre. Aber der Hauptpunkt, den ich nennen möchte, und warum ich auch gesagt habe, wir sind alle Turbokapitalisten. Der Hauptgrund dieser Krise ist eine exorbitante Verschuldung der Welt, ausgehend von Amerika. Es hat de facto eine Abkoppelung gegeben, die gibt es von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft. Es ist ein riesiges Kreditvolumen, was wir weltweit haben, einhergehend mit einer riesigen Verschuldung sind wahnsinnige Kreditgeschäfte, Kreditpakete geschnürt wurden, die eben dann immer weiter verkauft worden und das gilt es zurückzuführen, und das wäre eine unbequeme Wahrheit, und deshalb machen wir einen Wahlkampf ohne Thema. Weil jeder weiß, wenn man dieses Grundproblem angehen will, um die nächste Weltwirtschaftskrise zu verhindern, muss man den Leuten ganz klar sagen, sie werden noch mehr bezahlen müssen. Wir, das heißt Sie und ich. Es heißt, das Steuern erhöht werden, irgendwann, es heißt, dass wir eine zumindest nennenswerte Inflation bekommen werden, und es heißt, dass die Banken gestärkt werden müssen insofern, als dass sie selber in der Verantwortung sind, mehr aufzubauen. Das sehen wir in Deutschland sogar, dass das zumindest in Ansätzen zum Thema gemacht wird. Wichtig ist, dass die Banken nicht mehr nur von diesen Kreditgeschäften nur
 Abhängen, sondern ein Stück weit auf gesünderen Füßen mehr Eigenkapital haben und das könnte heißen, dass sie weniger Kredite und nicht mehr zu so billigen Konditionen vergeben können, dass auch das teurer wird. Das sind alles unbequeme Wahrheiten. Aber das sind so die Hauptpunkte. Die Verschuldung der Welt, die abgebaut werden muss, was uns das kostet, welche Maßnahmen das erfordert und es wird letztendlich heißen, die Banken setzen es nur um, die Unternehmen setzen weiter ihre Arbeit um, aber bezahlen werden es wir alle.

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