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Aus persönlicher Solidarität. Westerwelle wurde in der seit 40 Jahren geschlossenen Theologenschule empfangen. Foto: Mustafa Ozer/AFP

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Politik: Doppelbotschaften am Bosporus

Außenminister Westerwelle sieht Reformbedarf nicht nur bei der Türkei, sondern auch in der EU

Die Tafeln in den Klassenzimmern sind sauber und geputzt, die Schulbänke glänzen in schwarzem Lack, auf dem Flur ist eine Tischtennisplatte aufgebaut: Das Priesterseminar des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Konstantinopel auf der Insel Heybeliada bei Istanbul ist bereit für neue Schüler. Doch seit einer türkischen Verfassungsgerichtsentscheidung vor 40 Jahren steht das Seminar leer. Das Patriarchat hält die Schule dennoch in Schuss. Die Forderung nach Wiedereröffnung der Lehranstalt gehört zum Standardkatalog der Appelle der Europäischen Union an das Bewerberland Türkei. Auch Guido Westerwelle bekräftigt diese Forderung bei einem Besuch auf Heybeliada am Samstag. Doch nicht nur bei den Türken sieht der deutsche Außenminister Reformbedarf. Auch die Europäer müssen nach seiner Meinung überkommene Positionen überdenken.

Religiöse Vielfalt gehöre „zu unserem europäischen Leben selbstverständlich“ dazu, sagt Westerwelle, der das Seminar als erster Minister überhaupt besuchte. Sein Gastgeber, Metropolit Apostolos, drückte einst selbst auf Heybeliada die Schulbank, musste seine Ausbildung aber in Griechenland beenden, weil das Seminar 1971 geschlossen wurde. Seitdem kann die orthodoxe Kirche in der Türkei keinen Priesternachwuchs mehr ausbilden, dem Klerus im früheren Byzanz droht das Aus. Westerwelle betont, er verstehe seinen Besuch deshalb auch als Ausdruck „persönlicher Solidarität“.

Dass sich die Türkei in ihrem Europastreben mehr anstrengen sollte, ist für Westerwelle bei seinem dritten Türkeibesuch als Außenminister aber nur eine Seite der Medaille. Angesicht der aktuellen Lage und der Umbrüche in der arabischen Welt, aber auch langfristig sieht der Minister die Türkei als ein neues Machtzentrum auf der internationalen Bühne.

Die Türkei, früher selbst ein Krisenland, hat einen zehnjährigen Wirtschaftsboom hinter sich, der das Land tiefgreifend verändert hat, und tritt heute als politisches Schwergewicht zwischen Balkan, Kaukasus und dem Nahen Osten auf. Deshalb sollten die Europäer damit aufhören, die Türken von oben herab zu behandeln, und damit anfangen, der neuen Regionalmacht „auf Augenhöhe“ zu begegnen, sagte Westerwelle nach einer Begegnung mit seinem türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu in Istanbul vor der Presse.

Dass die Türken angesichts der Turbulenzen in Nahost einiges bewegen können, liegt für den deutschen Außenminister auf der Hand. Beispiel Syrien: „Wenn jemand zu den Syrern durchkommt, dann die Türken“, sagt einer aus Westerwelles Delegation. Auch im Konflikt in Libyen engagiert sich Ankara. Davutoglu reist an diesem Sonntag in die libysche Rebellenhochburg Bengasi, in den kommenden Tagen wird er in Damaskus erwartet – kein anderes Nato-Land hat diese Art von Bewegungsspielraum.

Westerwelle will, dass Europa dieses regionalpolitische Gewicht Ankaras besser nutzt. Die Türkei sei eine „Brücke in die islamische Welt“, sagt er mehrmals während seines 24-stündigen Besuches am Bosporus. Mit Davutoglu, den er „lieber Ahmet“ nennt, spricht er ausführlich über die Lage in der Region. Er lobt die türkische Hilfsbereitschaft für syrische Flüchtlinge. Davutoglu informiert den Gast über die türkischen Initiativen für diverse unruhegeschüttelte Staaten in Nahost. So nah dran wie die Türken ist sonst kaum jemand. Auch die Amerikaner sprächen sich eng mit den Türken ab, heißt es in der deutschen Delegation. Da will Berlin nicht außen vor bleiben.

Sorgen bereitet Westerwelle, dass die wachsende regionalpolitische Bedeutung und Dynamik der Türkei in einem krassen Gegensatz zum anhaltenden Abwehrverhalten einiger Europäer zur türkischen EU-Bewerbung steht. Er selbst will sich dafür einsetzen, dass die Beitrittsgespräche wieder an Fahrt gewinnen, das hat er Davutoglu versprochen. Unter polnischer EU-Ratspräsidentschaft soll bis zum Jahresende zumindest ein neues Verhandlungskapitel in den Beitrittsgesprächen eröffnet werden.

Die EU habe ein „massives Interesse daran, dass die Blickrichtung der Türkei in Richtung Europa bleibt“, sagt der deutsche Außenminister bei seiner Pressekonferenz. Fortschritte im Beitrittsprozess sind deshalb wichtig, den bisweilen gönnerhaft bis herablassenden Umgang mit der Türkei sollten sich die Europäer abgewöhnen, lautet zwischen den Zeilen die Botschaft Westerwelles. „Sonst reißt irgendwann der Faden“, sagt ein Delegationsmitglied. Nun muss Westerwelle nur noch den ein oder anderen Kollegen in den EU-Hauptstädten und vor allem in der eigenen Koalition davon überzeugen.

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