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Angehörige der irakischen Armee werden mehr und mehr von Freiwilligen unterstützt.

© Reuters

Update

Dschihadisten auf dem Vormarsch: UN alarmiert: Hunderte Tote bei Kämpfen im Irak

Erschossene Soldaten, getötete Zivilisten, mittellose Flüchtlinge: Die humanitäre Situation im Irak spitzt sich zu. Die UN sprechen bereits von Hunderten Toten.

Bei den Kämpfen der vergangenen Tage sind nach UN-Angaben in den vergangenen Tagen Hunderte Menschen ums Leben gekommen. Die Extremisten hätten unter anderem bei der Einnahme der Stadt Mossul wahllos Soldaten hingerichtet, teilte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte am Freitag in Genf mit. Auch mindestens 17 Zivilisten seien getötet worden. Hunderttausende Menschen aus Mossul sind nach UN-Angaben völlig mittellos vor den islamistischen Terroristen geflohen. In Panik hätten viele Männer, Frauen und Kinder ohne Geld und Habseligkeiten die zweitgrößte Stadt des Krisenlandes verlassen, betonte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Am Freitag rief das geistliche Oberhaupt der irakischen Schiiten, Ayatollah Ali al-Sistani, die Iraker zum Widerstand gegen die sunnitischen Dschihadisten aufgerufen. Die Bürger sollten zu den Waffen greifen und "ihr Land, ihr Volk und ihre heiligen Stätten verteidigen", sagte ein Sprecher al-Sistanis beim Freitagsgebet in der Schiiten-Hochburg Kerbela. Wer könne, solle sich den Sicherheitskräften im Kampf gegen die Dschihadisten der Organisation „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (Isil) anschließen.

Islamisten im Vormarsch auf Bagdad

Einem Medienbericht zufolge nahm die Isil eine weitere Stadt im Irak ein. Wie der Nachrichtensender Al-Arabija am Freitag meldete, übernahm Isil die Stadt Dschalula, rund 125 Kilometer nordöstlich von Bagdad, in der auch viele Kurden leben. Örtliche Aufständische sollen auf der Seite der Extremisten gekämpft haben.

Zuvor hat es in der Region heftige Gefechte zwischen kurdischen Milizen und Isil-Kämpfern gegeben, wie das Nachrichtenportal „Sumaria News“ berichtete. Truppen der kurdischen Peschmerga - die bis vor wenigen Tagen nur in den Autonomiegebieten im Nordirak im Einsatz waren - seien in der Provinz aktiv, nachdem die irakische Armee sich zurückgezogen hat.

Isil-Kämpfer sollen auf dem Vormarsch nach Bagdad eine weitere Stadt im Irak eingenommen haben.
Isil-Kämpfer sollen auf dem Vormarsch nach Bagdad eine weitere Stadt im Irak eingenommen haben.

© dpa

Der Kollaps der irakischen Armee und der blitzartige Vormarsch sunnitischer Terroristen über Mossul und Tikrit in Richtung Bagdad ist die gefährlichste Offensive radikaler Gotteskrieger seit dem Attentat des 11. September 2001. Die Folgen für den Irak und den gesamten Nahen Osten sind noch gar nicht absehbar. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Die Regierung in Bagdad versucht in heller Panik, die Schiiten in der Hauptstadt zu bewaffnen, und stellt eilends Bürgermilizen auf.

Greifen die USA militärisch ein?

Die USA schließen vor dem Hintergrund der besorgniserregenden Entwicklungen eine militärische Reaktion im Irak nicht aus. Das Land brauche zusätzliche Hilfe von den USA und er schließe bei Überlegungen über eine Reaktion keine Option aus, sagte US-Präsident Barack Obama am Donnerstag im Weißen Haus. Er wolle sicherstellen, dass die Extremisten gestoppt werden könnten, sagte der Präsident.

Obama traf sich auch mit seinen Team für nationale Sicherheit, um über die Situation zu beraten. Das teilte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Caitlin Hayden, mit.

Zuvor hatte es geheißen, die USA wollten sich nicht an Luftangriffen auf die Aufständischen beteiligen. Obama forderte die irakische Führung auf, an einer politischen Lösung zu arbeiten. „Dies sollte ein Weckruf für die irakische Regierung sein“, sagte er. Die USA ziehen mehrere hundert Amerikaner aus einem irakischen Luftwaffenstützpunkt nördlich von Bagdad vorübergehend ab. Das berichtete der Sender „Fox News“ am Donnerstag unter Berufung auf namentlich nicht genannte Regierungsbeamte. Sie hatten in dem sunnitischen Gebiet irakische Sicherheitskräfte im Einsatz von Kampfjets und Überwachungsdrohnen trainiert.

Wie entwickelt sich die Offensive der Gotteskrieger?

Anfang der Woche begann die spektakuläre Invasion Isil-Kämpfer. Ihre Kommandos sind mit den schnellen Geländewagen inzwischen bis in das Umland von Bagdad vorgedrungen. Sie kontrollieren die Provinz Ninive mit dem Zentrum Mossul, Teile der Provinz Kirkuk, jedoch nicht deren Hauptstadt Kirkuk. Auch die Provinz Salah al Din mit der Hauptstadt Tikrit fiel den Angreifern in die Hände. Tikrit wurde nach Angaben der irakischen Regierung im Laufe des Donnerstag jedoch zurückerobert. In der großen Wüstenprovinz Anbar haben die Extremisten bereits seit Januar die Stadt Falludscha in ihrer Gewalt sowie Teile von Ramadi. Damit beherrschen sie jetzt mehr als ein Viertel der irakischen Staatsfläche. Auf ihrer Website kündigen die Gotteskrieger an, ihr Endziel sei die Eroberung von Bagdad und Kerbela, das Pilgerzentrum der Schiiten 150 Kilometer südlich der Hauptstadt.

Wie ist dieser überwältigende militärische Erfolg zu erklären?

Die Isil-Terroristen haben ihre eigene religiös-ideologische Agenda, profitieren aber auch von der weit verbreiteten Frustration der sunnitischen Minderheit im Irak über das autoritäre schiitische Regime von Ministerpräsident Nuri al Maliki. Die irakische Armee besteht vorwiegend aus Schiiten, die sich in überwiegend sunnitischen Städten wie Mossul, Tikrit und Falludscha jahrelang quasi als Besatzer aufgeführt haben. Die Bewohner haben das brutale Willkürregime satt, in Mossul jagten hunderte Jugendliche die flüchtenden Soldaten unter einem Steinhagel davon.

Aber auch die einstigen Eliten unter Saddam Hussein, die ehemaligen Anhänger der verbotenen Baath-Partei und frustrierte Stammesführer machen unter der Hand mit den islamischen Extremisten gemeinsame Sache. Ehemalige Soldaten und Offiziere Saddams helfen den Angreifern mit militärischem Know-how. Die irakische Armee dagegen ist korrupt, inkompetent und undiszipliniert, obwohl sie jahrelang von US-Ausbildern trainiert und mit Waffen im Wert von 25 Milliarden Dollar ausgerüstet wurde. In Mossul liefen innerhalb von 24 Stunden zwei Divisionen mit 30 000 Soldaten einfach davon – vor einer Streitmacht von einigen hundert Angreifern.

Wie gehen die Isil-Kommandos vor?

Die Isil-Brigaden sind für ihre Brutalität berüchtigt. Inzwischen tauchten erste Fotos in den sozialen Medien auf, die gefangene irakische Soldaten in Zivil zeigen, hingerichtet in der Provinz Kirkuk. Hunderttausende Bewohner haben vor den Kämpfern die Flucht ergriffen und versuchen, sich in den von Kurden bewohnten Nordirak durchzuschlagen. Wie die jetzt schon fünfmonatigen Gefechte in Falludscha zeigen, lassen sich die gut bewaffneten Angreifer – wenn überhaupt – nur sehr schwer, unter hohen Verlusten und in einem zermürbenden Häuserkampf wieder aus den Wohnvierteln vertreiben. Aus Falludscha sind seit Januar 400.000 Bewohner geflohen. Teile der Stadt liegen in Trümmern, regelmäßig bombardiert von der irakischen Luftwaffe.

Isil ist reicher als Al-Kaida

Nach dpa-Informationen erbeuteten Isis-Kämpfer in Mossul 500 Milliarden irakische Dinar (318 Millionen Euro) in der Zentralbank. Damit wird Isil zur reichsten Terrororganisation vor Al-Kaida. Experten schätzen das Vermögen der Al-Kaida auf 50 Millionen bis 280 Millionen Euro.

Auch schweres Kriegsgerät soll Isis erbeutet haben. Im Netz kursierende Videos zeigen irakische Panzer und Helikopter mit der schwarzen Flagge der Isil bei einer Militärparade in Mossul.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf Isil Bombenanschläge in Wohngebieten, Massenexekutionen, Folter, Diskriminierung von Frauen und die Zerstörung kirchlichen Eigentums vor. Einige Taten kämen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich.

Was sind die politischen Gründe für den Teilzusammenbruch des irakischen Staates?

Die Sunniten, die unter Saddam Hussein quasi das Staatsvolk waren, fühlen sich unter der schiitisch dominierten Regierung von Premierminister Nuri al Maliki als Bürger zweiter Klasse. Alle Mahnungen an die Adresse des Regierungschefs, diesen Volksteil besser in das politische Geschehen einzubinden, haben nichts gefruchtet. Selbst UN-Generalsekretär Ban Ki Moon musste sich von Maliki öffentlich maßregeln lassen, als er Ende vergangenen Jahres bei einem Besuch in Bagdad forderte, Iraks Führung müsse sich mit den Kernursachen der gegenwärtigen Unruhen auseinandersetzen. „Niemand darf zurückgelassen werden“, erklärte Ban damals und warb für „sozialen Zusammenhalt, politischen Dialog und inklusive Gespräche“. US-Vizepräsident Jo Biden redete dem störrischen Maliki ebenfalls ungezählte Male ins Gewissen, dieser müsse sich intensiver um gute Kontakte zu den Sunniten bemühen. Auch unter schiitischen Politikern haben manche das Unglück kommen sehen und argumentiert, Malikis aggressive Konfrontationspolitik spiele den Radikalen in die Hände.

Der Iran will die Gewalt auf irakischem Boden nicht tolerieren

Durch die gegenwärtige Krise steht nicht nur die Existenz des Irak auf dem Spiel, sondern die Architektur des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Direkt verwickelt werden in das Geschehen könnten die Türkei wegen der Geiselnahme ihrer Landsleute in Mossul sowie der Iran, der sich als Schutzmacht der irakischen Schiiten fühlt. Irans Präsident Hassan Ruhani erklärte live im Staatsfernsehen, die Islamische Republik werde „diesen Terror und diese Gewalt“ auf irakischem Boden nicht tolerieren.

Nach einem US-Medienbericht hat der Iran bereits Revolutionsgarden in den Irak geschickt, um die Dschihad-Verbände der Isil zurückzudrängen. Mindestens drei Bataillone der Al-Quds-Brigaden, die Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden, wurden zur Unterstützung geschickt, berichtete das „Wall Street Journal“ unter Berufung auf iranische Sicherheitskreise.

Russland bezeichnete die Offensive von Isil als „zutiefst beunruhigend“. Es sei „zynisch“, den Terror im Irak als Folge der Syrienkrise zu bezeichnen, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag in Moskau. Lawrow sieht eine Mitschuld von Washington und London: „Wir können uns nicht darüber freuen, dass das Irak-Abenteuer der Amerikaner und Engländer nicht gut endet.“ (mit dpa)

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