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Kämpfer der von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte hissen ihre Flagge.

© Maya Alleruzzo/AP/dpa

Dschihadisten sind untergetaucht: Das „Kalifat“ ist besiegt – der IS bleibt gefährlich

Mit Baghus hat die Terrormiliz IS in Syrien das letzte von ihr kontrollierte Gebiet verloren. Doch mehrere tausend Kämpfer könnten sich neu formieren.

Nach wochenlangen Kämpfen ist die letzte Bastion des „Islamischen Staates“ (IS) an der Grenze Syriens mit dem Irak gefallen. Die kurdisch dominierten Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF) haben am Samstag die noch vorhandenen Widerstandsnester der Extremisten in dem Dorf Baghus am Euphrat gestürmt und dort ihre Fahne gehisst.

Das „Kalifat“ des Islamischen Staates, das vor einigen Jahren noch fast 90.000 Quadratkilometer umfasste, ist besiegt. Allerdings halten sich weiter westlich, in der Syrischen Wüste, noch mehrere tausend IS-Kämpfer in einem weitgehend unbesiedelten Gebiet. Diese Überbleibsel des „Kalifats“ könnten in den kommenden Monaten erhebliche politische Bedeutung für den Syrien-Konflikt erhalten.

Seit ihrem Siegeszug im Jahr 2014, als der IS weite Teile Ost-Syriens und West-Iraks eroberte, sind die Dschihadisten immer weiter zurückgedrängt worden und haben nacheinander Hochburgen wie Mossul im Irak und Rakka in Syrien verloren. Nun gab SDF-Kommandant Mazlum Abdi bei einer Siegesfeier bekannt: „Heute verkünden wir die Zerstörung der Organisation des sogenannten Islamischen Staates und das Ende ihrer Kontrolle über den letzten Rückzugsraum in Baghus.“

Doch der IS bleibt gefährlich. Im Irak zum Beispiel sollen sich Kämpfer der Extremisten unter die Bevölkerung gemischt haben. Die US-Regierung nimmt an, dass IS-Chef Abu Bakr al Bagdadi, der sich zeitweise ebenfalls in Baghus aufgehalten haben soll, in den Irak geflohen ist. Doch tatsächlich gibt es keine gesicherten Informationen über seinen Verbleib.

Der 47-Jährige erscheint mehr denn je als Phantom. Soweit bekannt war sein einziger Auftritt in der Öffentlichkeit Anfang Juli 2014, als er von der Kanzel der Al-Nuri-Moschee in der nordirakischen Großstadt Mossul aus den „Gehorsam“ aller Muslime gegenüber seinem „Kalifat“ in Syrien und dem Irak einforderte. Mehrfach wurde er bereits für tot erklärt.

Der Sprecher der SDF glaubt nicht, dass der IS-Führer noch in Syrien ist. Sie hätten „keine Informationen über die Präsenz al Bagdadis“, sagt Mustefa Bali. Aber einige, die aus der letzten IS-Bastion in Baghus flohen, gaben an, sie seien dazu von al Bagdadi persönlich aufgefordert worden.

Auch nach der Niederlage in Baghus lebt der IS weiter

Im Irak könnte sich der IS neu formieren. Auch in den von der Terrormiliz befreiten Gebieten in Syrien ist die Gefahr noch nicht gebannt. IS-Anhänger haben dort mehrere Terroranschläge verübt, bei denen auch US-Soldaten getötet worden sind. Europäische Staaten befürchten, dass Rückkehrer in ihren Heimatländern Gewalttaten verüben könnten. Der „Spiegel“ schrieb, in Syrien seien 59 Kämpfer mit deutschen Pässen, dazu noch Frauen und Kinder von IS-Angehörigen, in Haft.

Die SDF fordert schon seit Längerem, dass Deutschland seine Staatsbürger zurücknimmt. Doch bislang tut sich die Bundesregierung schwer, eine Lösung zu finden. Experten sagen, eine rechtstaatliche strafrechtliche Verfolgung sei in Deutschland schwer, weil Zeugen für Straftaten entweder noch in Syrien oder tot sind.

Auch nach der Niederlage in Baghus lebt der IS weiter. Außerhalb des Einflussbereiches der USA und der SDF halten sich Reste der Extremisten in einem unwirtlichen Gebiet. Laut einer Vereinbarung zwischen Washington und Moskau sind die amerikanischen Truppen in Syrien und ihre kurdischen Verbündeten in den Landesteilen östlich des Euphrat für den Kampf gegen den IS zuständig. Westlich des Stromes sollen die russische Luftwaffe und die syrische Regierungsarmee gegen die Dschihadisten vorgehen.

Das ist bisher aber nicht überall geschehen. In einem Teil der Syrischen Wüste zwischen der Ruinenstadt Palmyra im Westen und Deir al-Zor im Osten verstecken sich IS-Trupps in der Einöde und in Höhlen. In jüngster Zeit flogen Russen und Syrer mehrfach Luftangriffe gegen IS-Stellungen bei der Stadt al-Sukhnah. Bis zu 3000 IS-Kämpfer sollen sich laut unbestätigten Medienberichten in der Gegend aufhalten.

Eine Keimzelle für eine Wiedergeburt des „Kalifats“ sind diese versprengten Verbände wohl nicht. Sie verfügen weder über die militärischen Möglichkeiten für Großangriffe etwa auf Palmyra, noch kann die spärlich besiedelte Wüstengegend viele Kämpfer ernähren. Die IS-Trupps in der Syrischen Wüste dürften als Kampfverbände keine Rolle mehr spielen.

Assad konzentriert sich auf die Lage im nordwestsyrischen Idlib

Deshalb stellt sich die Frage, warum die russische Luftwaffe und die syrische Armee nicht schon längst gegen die Kämpfer in der Wüste vorgegangen sind. „Es kann nur eine Antwort geben: Assad will den IS als Buhmann einsetzen“, sagte Spyros Plakoudas, Nahost-Experte an der Amerikanischen Universität der Emirate in Dubai, im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Plakoudas vermutet, dass die IS-Reste dem syrischen Präsidenten als Propaganda-Instrument dienen könnten. Baschar al Assad will sich demnach vor der internationalen Gemeinschaft als Kämpfer gegen den letzten Rest des IS profilieren und Hilfe einfordern: „Unterstützt mich, denn ich kann für Sicherheit sorgen“, laute die Botschaft, die Damaskus verbreiten wolle.

Deshalb werden die IS-Kämpfer in der Wüste derzeit im Großen und Ganzen in Ruhe gelassen. Assads Regierung konzentriert sich auf die Lage im nordwestsyrischen Idlib, der letzten von Rebellen gehaltenen Provinz nach acht Jahren Krieg in Syrien. Dort droht Assad mit einem Großangriff, was das Nachbarland Türkei wegen der dann drohenden neuen Flüchtlingswelle verhindern will.

Assads Regierung erklärt immer wieder, dass sie „jeden Zentimeter“ des Staatsgebietes wieder unter ihre Kontrolle bringen will. Erst wenn die Situation in Idlib geklärt ist, dürfte sich Assad den IS-Trupps in der Wüste zuwenden wollen. Vorerst also wird der „Islamische Staat“ in den Weiten eines der größten Wüstengebiete der Welt weiter existieren können.

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