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Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU)

© REUTERS/Joachim Herrmann

Einwanderungsgesetz: Experten kritisieren Seehofers Leitlinien

Die Bundesregierung hat sich auf Eckpunkte eines Einwanderungsgesetzes geeinigt. Doch Experten, Vertreter der Wirtschaft und die Gewerkschaften sehen erheblichen Verbesserungsbedarf.

Es war für die CDU ein langer Weg. Noch im vergangenen Jahrzehnt beharrten Spitzenpolitiker wie Wolfgang Schäuble darauf, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Unvergessen ist auch die Bemerkung des ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, der im Jahr 2000 mit dem Satz „Kinder statt Inder“ eine Kontroverse auslöste.

Doch nach dem Unionsstreit in diesem Jahr hat sich die Regierung nun auf ein Eckpunktepapier für ein Einwanderungsgesetz geeinigt. Endlich, finden Arbeitsmarktexperten. „Um den Bedarf an Arbeitsplätzen zu decken, braucht Deutschland in Zukunft jährlich eine Fachkräftezuwanderung in sechsstelliger Höhe“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, dem Tagesspiegel. Mehr als 800.000 freie Stellen gab es bundesweit allein im Juli 2018.

Keine Einwanderung ins Sozialsystem

Auf vier Seiten sind in dem Papier die wichtigsten Leitlinien skizziert: Entscheidend für die Erlaubnis zur Einwanderung sollen berufliche Qualifikation, Alter und Sprachkenntnisse sein. Im Zentrum der Pläne stehen nicht nur Hochschulabsolventen, sondern Einwanderer mit Berufsausbildung. Künftig besteht die Regierung nicht mehr auf der sogenannten Vorrangprüfung, also der Bevorzugung einheimischer Bewerber bei der Besetzung einer offenen Stelle.

Allerdings behält sich die Bundesregierung die Möglichkeit vor, „zum Schutz“ deutscher Arbeitnehmer die Vorrangprüfung kurzfristig wiedereinzuführen – etwa wenn die Arbeitslosenzahl steigt. Voraussetzung für die Einwanderung soll sein, dass die Bewerber ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten können. „Eine Einwanderung in die Sozialsysteme werden wir verhindern“, heißt es in dem Eckpunktepapier, das dem Tagesspiegel vorliegt.

Doch kann das geplante Einwanderungsgesetz halten was es verspricht? Vertreter der Wirtschaft begrüßen das vorgelegte Papier zwar grundsätzlich – es gehe in die richtige Richtung. Sie sehen aber ähnlich wie die Gewerkschaften an mehreren Stellen erheblichen Verbesserungsbedarf. Ein großer Kritikpunkt ist, dass der viel diskutierte „Spurwechsel“ nicht enthalten ist – also die Möglichkeit für abgelehnte Asylbewerber in Deutschland zu bleiben, wenn sie einen Job haben. „Da muss nachgebessert werden“, sagt auch Ökonom Fratzscher.

Vor allem die CSU ist gegen eine solche Regelung. Teile der Union und die gesamte SPD setzen sich dafür ein: „Es kann nicht sein, dass fleißige Pflegekräfte oder Handwerker aus ihren Betrieben gerissen und abgeschoben werden“, sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Als Kompromisslösung ist eine Stichtags-Regelung denkbar, wie sie der Deutsche Landkreistag (DLT) vorschlägt. Wer bis zum Inkrafttreten des Einwanderungsgesetzes in Deutschland lebe und „echte Integrationsleistungen“ nachweisen könne, dem sollte der Wechsel vom Asylsystem in den regulären Arbeitsmarkt erlaubt werden, fordert DLT-Präsident Reinhard Sager. Sollte es tatsächlich dazu kommen, könnten viele Menschen davon profitieren. Mehr als 600.000 abgelehnte Asylbewerber lebten laut Ausländerzentralregister zum Ende des vergangenen Jahres in Deutschland. Wie viele von ihnen berufstätig sind wird von der Behörde nicht erfasst, heißt es bei der Bundesagentur für Arbeit.

"Feuerwerk an Vagheiten"

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Johannes Vogel kritisiert das Eckpunktepapier als ein „Feuerwerk an Vagheiten“, der „große Wurf“ sei es nicht. Es würden nur kleinere Reparaturen angekündigt, anstatt „endlich ein richtiges Punktesystem nach dem Vorbild erfolgreicher Einwanderungsländer“ zu schaffen. Gemeint ist damit zum Beispiel Kanada. Dort können sich Fachkräfte aus Mangelberufen zur Einwanderung qualifizieren, wenn sie eine bestimmte Punktzahl erreichen – bewertet werden dabei Kategorien wie Ausbildung, Sprachkenntnisse, Alter und Anpassungsfähigkeit.

Vogel kritisiert zudem, dass sich Bundesinnenminister Horst Seehofer in seinem Eckpunktepapier zu Gehaltsgrenzen ausschweige. Bei der bereits existierenden „Blue Card“, die Hochqualifizierte mit Jobangebot schon jetzt zur Einwanderung in die EU berechtigt, seien diese nämlich „unrealistisch“, sagt Vogel. Sie liegen derzeit für Hochschulabsolventen bei 52.000 Euro pro Jahr beziehungsweise in Mangelberufen bei 40.560 Euro.

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Ein weiteres Problem, das aus Sicht von Experten in dem Papier noch nicht ausreichend adressiert wird, ist die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen. „Sie muss schneller und unbürokratischer gehen“, sagt Ökonom Fratzscher. „Derzeit kann noch nicht mal die Ärztin aus Spanien problemlos nach Deutschland kommen. Bei der Ärztin aus Indien ist es noch viel schwieriger.“ Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer forderte, es müsse möglich sein, dass Menschen aus dem Ausland mit einer abgeschlossenen Ausbildung auch dann eine Arbeit aufnehmen können, „wenn diese nicht zu 100 Prozent formal einer deutschen Ausbildung entspricht“.

Umstritten ist außerdem, dass sich die Einwanderung künftig nicht nur auf sogenannte „Engpassberufe“ beschränken soll – also Berufe in Bereichen wie Mechatronik, IT, Pflege und Softwareentwicklung, in denen es derzeit einen Fachkräftemangel gibt. „Der Wegfall der Beschränkung auf die bisher sehr eng definierten Engpassberufe würde erlauben, dass grundsätzlich in alle Ausbildungsberufe zugewandert werden könnte und die tatsächlichen Bedarfe am Arbeitsmarkt auch mit Fachkräften aus dem Ausland gedeckt werden könnten“, sagt Arbeitgeberpräsident Kramer. Der Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) hält das dagegen für den falschen Weg. Er glaubt, der Bedarf müsse gemeinsam mit den jeweiligen Branchen ermittelt werden. Dann könne entschieden werden, ob Einwanderung in diesem Bereich nötig sei.

Keine Nachteile für Deutsche auf Jobsuche

Der DGB kritisiert außerdem, die im Eckpunktepapier enthaltene Möglichkeit eines befristeten Aufenthalts zur Arbeitsplatzsuche sei nicht neu. Bereits jetzt sei das für Drittstaatsangehörige mit einem akademischen Abschluss möglich, wenn sie über die nötigen Mittel und eine Krankenversicherung verfügen, sowie für ausländische Absolventen deutscher Hochschulen. Die Regelungen auf beruflich qualifizierte Drittstaatsangehörige auszuweiten, sei eher ein Placebo, da die Möglichkeit bislang ohnehin kaum genutzt werde.

Positiv sehen viele Wirtschaftsvertreter den Wegfall der Vorrangprüfung. Wenn derzeit jemand von außerhalb der EU in Deutschland eine Arbeit aufnehmen will und ein Jobangebot vorlegt, muss die Arbeitsagentur eine solche Prüfung vornehmen. Dabei klärt sie, ob für die Beschäftigung auch ein Deutscher oder EU-Bürger in Frage käme. In Engpassberufen gibt es diese Vorrangprüfung schon jetzt nicht.

Künftig könnte sie insgesamt wegfallen – wenn die Konjunktur es hergibt. Befürchtungen, dass durch die Abschaffung der Vorrangprüfung Deutschen Nachteile entstehen könnten, findet Ökonom Fratzscher „an den Haaren herbeigezogen“. „Jemand, der Deutsch spricht, hier lebt, integriert ist, hat immer riesige Vorteile gegenüber einem Bewerber beispielsweise aus Asien.“ Als Ausnahme sind allerdings Berufe in Unternehmen vorstellbar, in denen die Geschäftssprache Englisch ist.

Einigkeit herrscht bei allen Experten, dass ein Einwanderungsgesetz notwendig ist. „Deutschland ist massiv von Zuwanderung abhängig. Der Wirtschaftsboom in Deutschland wäre ohne Zuwanderung aus anderen EU-Ländern nicht möglich gewesen“, sagt Fratzscher. Das zeigt auch eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Demnach haben Ausländer mit ihren Beiträgen allein im Jahr 2012 den deutschen Haushalt um 22 Milliarden Euro entlastet. „In Zukunft werden wir verstärkt von Zuwanderung auch aus Ländern außerhalb Europas abhängig sein“, sagt Fratzscher.

Konkurrenz mit USA und Kanada

Es ist aber fraglich, ob künftig so viele Menschen nach Deutschland kommen, wie die Bundesregierung sich das vorstellt. „Es ist nicht so, dass überall auf der Welt Menschen auf gepackten Koffern sitzen und nur auf ein Signal aus Deutschland warten“, sagt Ulf Rinne vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Die meisten wollten nach wie vor in die USA oder nach Kanada. Außerdem erfüllten nur wenige die Anforderungen, die im Eckpunkte-Plan beschrieben sind. So sprechen nur wenige Menschen auf der Welt Deutsch, noch weniger haben wohl eine Berufsausbildung, die deutschen Standards genügt.

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