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2011

© Eventpress Hoensch

Egon Bahr: Der Entspannungskünstler

Er war der beste Freund von Willy Brandt. Er war der Vater der Ostverträge. Er ist das Urgestein der SPD. Heute wird Egon Bahr 90 Jahre alt.

"Schenken Sie ihm bloß kein Buch, er hat so viele Bücher, die liest er in zwei Leben nicht aus!“, hatte seine Assistentin gesagt. „Aber eine gute Flasche Wein, die würde er sicherlich schätzen.“

Als der Weinhändler hört, für wen die Flasche ist, gewährt er großzügig Rabatt. „Hat sich verdient gemacht um meine Familie. Reiseerleichterungen und so, Sie wissen schon, Entspannungspolitiker wie ich.“ Er zeigt auf seine Weinregale. „Und grüßen Sie bitte schön!“

Ein milder Märztag. Egon Bahr sitzt, wie so oft, im vierten Stock des Willy- Brandt-Hauses. Die tief stehende Nachmittagssonne blendet den Besucher, der versucht, das Gesicht des Gegenübers festzuhalten. Plötzlich wirkt Bahr wie der amtierende Außenminister eines mächtigen Reiches, der den Abgesandten einer kümmerlichen Provinz empfängt. Er ist ein zierlicher Mann, mit aufragender Stirn, kräftiger Nase, braunen Augen, einem musischen Mund. „Ja“, sagt er jetzt, „das könnte man sagen, dass mein Vater mir politische Orientierung gegeben hat. Er hat bereits 1933 gewusst, dass Hitler Krieg bedeutet. Und es hat mich sicherlich geprägt, dass er meine Mutter trotz ihrer jüdischen Abkunft nicht verlassen hat, obwohl das die Nazis forderten. Er war ein begeisterter Pädagoge, dennoch gab er lieber den Beruf auf, als sich von ihr zu trennen.“

Egon Bahr wird 1922 in Thüringen geboren, in Treffurt, der Vater ist Lehrer, die Mutter Bankbeamtin. Als der Vater seine Stelle verliert, ziehen die Bahrs nach Berlin, wo der junge Egon 1940 in Friedenau sein Abitur macht. „Unangefochtene demokratische Überzeugung“, schreibt Bahr in seiner Autobiographie „kann ich mir im Rückblick nicht bescheinigen.“ Er findet manches gut, was „der Adolf“ macht und auch als Schütze an der Flak ist er vom Krieg zunächst nicht entsetzt. Als sie eine viermotorige Liberator abschießen, empfindet er Genugtuung und selbst der Anblick der entstellten Leichen lässt ihn nicht erschrecken. Das Entsetzen über die eigene kriegerische Fühllosigkeit kommt erst später. Es ist ein Prozess, die Desillusionierung findet in Etappen statt.

Dazu gehört auch, dass er 1944 als „wehrunwürdig“ aus der Wehrmacht entlassen wird, als die NS-Behörden nämlich entdecken, dass der Fahnenjunkerunteroffizier Bahr eine jüdische Großmutter hat. Versteckt in einer Laubenkolonie und schließlich evakuiert unter falschem Namen überlebt sie den Holocaust. Bahrs Mutter, eine so genannte Halbjüdin, ist durch die Ehe mit einem „Deutschblütigen“ vor der Deportation geschützt. Diese Erfahrungen tragen dazu bei, dass der junge Bahr ein politisches Bewusstsein ausbildet, eine Haltung, einen Lebensantrieb: Nie wieder darf so etwas passieren, sagt er sich, „nie wieder!“.

Der junge Kriegsheimkehrer ist taten- und demokratiedurstig und Realist. Musiker wäre er gern geworden, aber das gilt als brotlose Kunst. Was tun? „Ich bildete mir ein, schreiben zu können“, sagt Bahr altersmilde. Das eingebildete Talent bringt ihn weit. Er schreibt für verschiedene Zeitungen, zuletzt für den „Tagesspiegel“ und landet schließlich beim Rias, dem „Rundfunk im amerikanischen Sektor“, wo man ihm stolze 2200 Mark im Monat zahlt. Er wird Chefredakteur und eine bekannte politische Stimme. Bereits im Nachkriegsberlin findet er sein Lebensthema: die deutsche Frage. Zur SPD Kurt Schuhmachers fühlt er sich hingezogen, weil sie es, so Bahr, als einzige Partei ernst meint mit der Deutschen Einheit. Der Journalist, der nicht immer nur meckern will, tritt 1956 in die SPD ein. Der Rest ist Geschichte. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt engagiert ihn 1960 als Pressesprecher des Berliner Senats und entdeckt, dass der mitunter scheu wirkende Mann nicht bloß ein fähiger und diskreter Vermittler ist, sondern auch konzeptionelle Kühnheit und diplomatisches Gespür besitzt.

Bahr begleitet Brandt 1966 in der Großen Koalition ins Auswärtige Amt und dient ihm ab 1969 im Bundeskanzleramt. Die Ära Brandt-Scheel beginnt und mit ihr die Aufsehen erregende, heftig polarisierende und doch so zwingende neue Ostpolitik. Für die Ostverträge mit der Sowjetunion, Polen, der DDR und der CSSR spendet die Welt Beifall, während in der Bundesrepublik vom „Ausverkauf deutscher Interessen“ und von „Vaterlandsverrat“ die Rede ist. Mittendrin Egon Bahr und seine Formel „Wandel durch Annäherung“. Diese Dialogformel war deshalb so erfolgreich, weil sie so schillernd offen war. Wer wandelte wen? Infizierte man den Anderen mit dem Eigenen oder steckte man sich selbst an? Ostberlin sprach von „Aggression in Filzlatschen“, weil man die verführerische Attraktivität dieser harmlos klingenden Worte erkannte. Für Egon Bahr sind es Jahre fiebriger Aktivität, Adrenalin- Jahre.

„Sie werden in dieser Zeit wenig zuhause gewesen sein, kaum erlebt haben, wie ihre Kinder aufwuchsen?“

„Dass meine beiden Kinder vernünftige Menschen geworden sind, verdanke ich nur meiner Frau“, sagt Bahr und schweigt. Er blickt ernst, der Mund ist schmal, er wartet. 1945 heiratet Egon Bahr die hochschwangere Dorothea. Sie trennen sich 1977, bleiben aber verheiratet. Dorothea Bahr stirbt 2011. Viel mehr erfährt man nicht, denn sein Privatleben hat der Politiker stets gut gehütet. Auch als der diplomatische Langstreckenläufer des Kanzlers 1973 erschöpft zusammenbricht, wird das damals kaum bekannt.

Egon Bahrs Diplomatie

Bahr war ein begnadeter Selfmade-Diplomat, der die Ostpolitik wie ein Geheimdiplomat des 19. Jahrhunderts vorantrieb. Er operierte und sondierte über Geheimkanäle, er ließ alle Welt im Unklaren über den Stand der Dinge, zumindest die Welt, die ihn seiner Meinung nach hätte behindern können. Da er das uneingeschränkte Vertrauen des Bundeskanzlers besaß, verhandelte er agil, mitunter riskant und irritierend elastisch, während seine Verhandlungspartner oftmals schwerfällig wirkten, weil sie sich stets rückversichern mussten. Bahr hingegen segelte souverän durch unruhige Gewässer. Hans Koschnick, der frühere Bremer Bürgermeister und SPD-Außenpolitiker urteilt über sein besonderes Geschick: „Egon Bahr hat in der Vermittlung der Neuen Ostpolitik gegen alle Widerstände unendliche Geduld bewiesen!“

„Und wie fällt ihre Selbsteinschätzung aus, Herr Bahr? Was war ihre stärkste diplomatische Waffe?“

Er legt die Stirn in Falten, zieht an der Zigarette. „Waffe? Na ja!“ Die Falten verschwinden. „Das ist leicht! Da ist, erstens, die absolute Vertrautheit mit der Materie. Wir hatten im Auswärtigen Amt bereits alle Fragen und Antworten durchgespielt. Zweitens: Man gewinnt nicht gegen, sondern nur mit jemandem, man gewinnt nur zusammen. Erst dann bildet sich zwischen Partnern Vertrauen. Und drittens: Man darf niemals mit gespaltener Zunge reden. Ich habe Henry Kissinger in aller Offenheit erzählt, was wir wollten und ebenso hielt ich es mit Andrej Gromyko.“

Zu einem guten Teil gehört der Friedensnobelpreis, der Willy Brandt 1971 verliehen wurde, auch Egon Bahr. Brandt wusste das. Sie ergänzten sich in dieser Phase idealtypisch, ihre Talente steigerten sich gegenseitig und wären ohne den anderen partiell un- oder unterentwickelt geblieben. Brandts Exil-Biographie, sein Ernst und seine zivile Melancholie adelten ihn, machten ihn zu einem Partner, dem man im Ausland vertraute. Er fand intuitiv die richtigen Gesten und Worte, bis hin zum legendären Kniefall in Warschau. Und Bahr, der sensible Sanguiniker, steuerte durch den harten Alltag der Verhandlungen, detailversessen, selbstbewusst, forsch, aber stets loyal. Was Brandt zu dieser und jener Frage sagen würde, wusste Bahr, weil aus dem Chef ein Freund geworden war. Während die Gegenseite zum Telefonhörer griff, hörte Bahr in sich hinein.

Berühmt geworden sind auch die Bilder des weinenden Egon Bahr. Am 7. Mai 1974 tritt der wegen der Guillaume-Affäre aus dem Amt geschiedene Bundeskanzler vor die SPD-Fraktion. Der Zuchtmeister Herbert Wehner bellt in den Saal „Willy, wir alle lieben Dich!“. Bahr graust es. Diese Worte aus dem Mund dieses Mannes, empfindet er, sind reine Heuchelei. Zorn, Empörung und Trauer mischen sich. Hier endet etwas, die intensivsten Jahre im Leben des Egon Bahr sind Historie. Er schluchzt wie ein Kind. Egon Bahrs Stimme klingt heute noch unversöhnlich, wenn er über Wehner spricht: „Dieser Mann behandelte Menschen wie Figuren, die man verschieben kann.“

Der Neunzigjährige ist viel gefragt in diesen Tagen. Man lädt ihn Talkshows ein, er hält Vorträge, schreibt Bücher. Als er vor kurzem mit dem befreundeten Kabarettisten Peter Ensikat ihr gemeinsames Gesprächsbuch „Gedächtnislücken“ in Berlin vorstellte, ein lesenswerter Ost-West-Dialog, platzte das Willy Brandt-Haus aus allen Nähten. Die Menschen standen, saßen auf dem Boden oder auf Treppen. Kein Murren. Alle wollten den analogen Alten erleben, den Politiker mit der historischen Aura. Gerade in den Zeiten digitaler Beschleunigung wächst die Sehnsucht nach Politikern, deren Leben politische Wegmarken setzt. Helmut Schmidt und Egon Bahr sind Kompassträger. Wo das Politische medial zerfließt, wo eine neue Politikergeneration sich über das Internet an die Menschen wendet, sucht der Bürger nach Orientierung im Gestern, das vielleicht nicht golden, aber doch übersichtlicher und authentischer war. Oder so wirkt.

„Und jetzt Herr Bahr? Zwanzig Jahre nach der Deutschen Einheit, die Bundeskanzlerin ist eine Ostdeutsche, der neue Bundespräsident wird ein Ostdeutscher sein. Ist ihnen ihr Lebensthema abhanden gekommen?“

„Auf keinen Fall!“, er lacht laut. „Wir haben die innere Einheit noch nicht erreicht. Die innere Einheit verlangt Versöhnung, und dabei wird denen, die am meisten gelitten haben, am meisten abverlangt.“

Der große Entspannungskünstler Bahr ist mit sich im Reinen. Er liebt die Musik, vor allem Bach und liest viel, bevorzugt Biographien: „Ich kann ohne Bücher nicht leben, zumindest bilde ich mir das ein.“ Und er hat sich noch einmal verliebt. Er heiratet im Sommer 2011 die fünfzehn Jahre jüngere Adelheid Bonnemann-Böhner, mit der er seit 2002 zusammenlebt. Die Wissenschaftlerin im Ruhestand war von 1974 bis 2001 Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Kiel und 1981 deren erste Dekanin. Bahr erwähnt das mit einigem Stolz. „Meine Lebensgefährtin hat mir einen schriftlichen Heiratsantrag gemacht und dem konnte ich, nach einigem Nachdenken, nicht widerstehen, zumal ihre Mutter 105 Jahre alt geworden ist, so dass ich einigermaßen sicher sein kann, dass meine Frau mich überlebt.“

Bahr schaut auf seine schwarze Swatch. Er trägt sie seit Jahrzehnten. Manchmal, sagt er, unterhalte er sich noch mit dem toten Freund, mit Brandt, die Resonanz seiner Stimme ist nicht verloren.

„Haben Sie Brandt mal nach dem nächsten Kanzlerkandidaten der SPD gefragt?“

Er lächelt versonnen: „Dazu schwieg er.“

Letzte Frage: „Gibt es eine Überschrift für ihr Leben? Ein Motto?“

Bahr schaut nach innen. Lange Pause. Zieht die Zigarettenschachtel zu sich, schnippt sie wieder weg. Die Sonne ist hinter den Dächern verschwunden, die Flure der Parteizentrale sind leer. Gleich wird auch er gehen. Vorbei an Rainer Fettings Willy-Brandt-Skulptur im Atrium. Er schlendert mit leichtem Schritt, fast beschwingt. Freut sich des Lebens.

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