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Ehemaliger DDR-Spion: "Der Kommunismus wird wiederkommen"

Manchmal trifft er die Kollegen von früher. Dann träumen sie von ihrem alten Leben. Dieter Feuerstein war jahrzehntelang DDR-Agent – bis er geschnappt wurde und ins Gefängnis kam. Seine politischen Überzeugungen aber hat er nie geändert.

Das Sofa, auf dem Dieter Feuerstein saß, als seine Welt zusammenbrach, steht noch immer an derselben Stelle im selben Wohnzimmer im selben Reihenhauses am Stadtrand von München wie im November 1989.

Damals hörte er den Nachrichtensprecher sagen: „Hans Modrow, Ministerpräsident der DDR, wird alle politischen Gefangenen der DDR bedingungslos freilassen.“ Bis zu jenem Novemberabend hatte Feuerstein gehofft, dass die DDR weiterexistieren würde – obwohl die Mauer schon einige Tage davor gefallen war. Nun starrte er auf den Bildschirm und dachte: „Jetzt ist es wirklich vorbei.“

Viel hat sich seitdem verändert, in der Welt und auch in seinem Leben. Und doch sind einige Dinge genau gleich geblieben.

Dieter Feuerstein, der heute 56 Jahre alt ist, war Spion für die DDR – und er war Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Von diesen sogenannten Westspionen gab es Ende der 80er Jahre zwischen 3000 und 4000. Nur rund 50 von ihnen galten als wichtig, und einer von denen war Feuerstein. Er arbeitete in Ottobrunn nahe München beim Rüstungsbetrieb Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), den es heute so wenig noch gibt wie die DDR, der erst zur Dasa kam und dann zum europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern EADS. Doch damals war MBB ein beliebtes Ziel für Agenten.

1984 wurde ein Leiter der MBB-Entwicklungsabteilung als Spion des sowjetischen KGB enttarnt. Nach seiner Festnahme und den anschließenden Ermittlungen stellte sich heraus, so schrieb damals die Wochenzeitung „Zeit“, dass die Sicherheitsüberprüfungen der MBB-Mitarbeiter, die an Militärprojekten mitarbeiten, „außerordentlich ungenügend“ gewesen seien. Der enttarnte Abteilungsleiter sei 16 Jahre nicht überprüft worden. „Er ist damit kein Einzelfall“, schrieb die „Zeit“. Feuerstein ist auch niemandem aufgefallen. Er war zuletzt Sicherheitsbeauftragter, hatte Zugang zu allen Geheimdokumenten. Wie der Abteilungsleiter hat auch Feuerstein den Tornado ausspioniert. Er hat Baupläne abfotografiert und die Bilder an die DDR weitergegeben.

Der Tornado war damals der wichtigste Kampfjet der Bundesrepublik, ein Gemeinschaftsprojekt von Deutschland, Italien und Großbritannien, das für Luftangriffe, Aufklärung und Seekriegführung aus der Luft eingesetzt wurde. In der Sowjetunion erhielt Feuerstein für seine Spionagearbeit den Leninorden. In der DDR war er ein Held.

In der Bundesrepublik war er ein Verräter. Die Weitergabe der Tornado-Pläne bedeutete Geheimnisverrat. Als noch beide deutsche Staaten existierten, drohte ihm deshalb lebenslänglich. „Doch ich wusste immer: Wenn ich entdeckt werden sollte, würde mich die DDR retten“, sagt er. „Sie würden einen Agenten aus Westdeutschland, der im Gefängnis in Bautzen gefangen war, gegen mich eintauschen.“ Dort hielt die DDR westdeutsche Spione fest.

Aber an jenem Novemberabend 1989 war klar, dass es bald keine Spione der Bundesrepublik mehr in der DDR geben würde. „Die übrigen Worte des Nachrichtensprechers nahm ich gar nicht mehr wahr“, erinnert sich Feuerstein. Er hörte nur noch, wie seine Frau sagte: „Ein Staat, der auf das Faustpfand der politischen Gefangenen verzichtet, der hat sich aufgegeben.“ Seine Frau war ebenfalls Spionin. Feuerstein hat sie angeworben – und damit wiederholt, was ihm einst widerfuhr.

Die Geschichte des DDR-Spions Dieter Feuerstein beginnt im Jahr 1972 in Frankfurt am Main. Er war 17 Jahre alt. Die Welt, in der er lebte, fand er ungerecht, er war auf der Suche nach einer Alternative. In seiner Heimatstadt Frankfurt lernte er linke Hausbesetzer kennen, er las die Artikel von Ulrike Meinhof, ging auf Demonstrationen. Als der Sohn die Mitgliedschaft in der DKP beantragte, kam es zum Konflikt im Elternhaus. Der Vater wollte es ihm verbieten, und der Sohn fühlte sich verraten. Wie konnte der Vater, der überzeugte Kommunist, nicht wollen, dass sein Sohn in die DKP eintrat?

Kurz darauf nahm der Vater Dieter Feuerstein mit auf einen langen Spaziergang in den Wald. „Es gibt eine Alternative zu deiner linken Szene“, sagte der Vater. Der Sohn wollte schon wieder zum Protest ansetzen, doch der Vater kam ihm zuvor: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands.“ Es war still im Wald, nur das Zwitschern der Vögel war zu hören. Dieter Feuerstein erinnert sich genau an den Tag. Dann sagte der Vater noch: „Wenn du das machst, wären wir in derselben Partei.“ Dann begann er zu erzählen: davon, dass er, der promovierte Maschinenbauingenieur, als Spion für die DDR arbeitete, und von der idealen Welt auf der anderen Seite der Mauer.

„Ich verstand, dass ich meinen Vater mit meiner politischen Aktivität in Gefahr bringen könnte. Das wollte ich nicht“, sagt Dieter Feuerstein. „Wir hatten immer eine innige Beziehung. Ich verehrte ihn für seinen klaren Verstand und seine Haltung, von da an auch für seinen Mut.“ Der Vater gab Dieter Feuerstein Bücher zu lesen, die der Sohn verschlang, anschließend saßen die beiden stundenlang zusammen und redeten über Ideale. „Mir war schnell klar, dass ich auch für das Ministerium für Staatssicherheit arbeiten wollte“, sagt Dieter Feuerstein.

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Das MfS suchte vor allem im Umfeld von aktiven Westspionen nach neuen Mitarbeitern, systematisch wurde auch versucht, deren Kinder in die Geheimdienstarbeit einzubinden. Vor allem die beruflichen Perspektiven der Jugendlichen interessierten die Männer, die sich Instrukteure nannten, sie versuchten oft auf die Berufswahl Einfluss zu nehmen. Das gelang nur selten. Bei Dieter Feuerstein schafften sie es.

Als der die Männer kennenlernte, die seinem Vater die Aufträge des Ministeriums für Staatssicherheit übermittelten, fragte ihn einer: „Was willst du studieren?“ „Keine Ahnung“, sagte er. Der Mann antwortete: „Wie wäre es mit Luft- und Raumfahrttechnik?“ Dieter Feuerstein hatte zwei Fächer in der Schule, die er nicht mochte: Mathe und Physik. Trotzdem schrieb er sich an der Uni für Luft- und Raumfahrttechnik ein. Manchmal fluchte er zwar innerlich, viel lieber hätte er Germanistik studiert. Als die Männer sagten, er sollte zur Tarnung Mitglied in der „Jungen Union“ und im „Ring christlich-demokratischer Studenten“ werden, gehorchte er. Wenig später hatten sich alle früheren Freunde von ihm abgewandt.

Eineinhalb Jahre nachdem er sich entschieden hatte, Spion zu sein, starb sein Vater. Mit Ende 40. Dieter Feuerstein, damals gerade 19 Jahre alt, verfiel in tiefe Trauer, er hatte nicht nur seinen Vater, sondern auch seinen Komplizen verloren. Doch anstatt in jenem Moment seinen Lebensweg zu überdenken, hielt er jetzt umso stärker am Leben als Westspion der DDR fest. Er hatte eine Mission, er musste das Erbe des Vaters bewahren.

„Ich entwickelte eine unglaubliche Energie“, sagt Dieter Feuerstein. Er machte in Westdeutschland steile Karriere für die DDR: Das Studium schloss er mit sehr guten Noten ab, er bewarb sich bei MBB, bekam die Stelle und arbeitete sich systematisch nach oben. Feuerstein war erfolgreich, die Instrukteure lobten ihn. Die Anerkennung befeuerte ihn zu noch größeren Leistungen.

„Wenn ich von einem wichtigen Dokument erfuhr, nahm ich eine Minikamera mit ins Büro, kleiner als meine Handfläche, und filmte die Unterlagen ab“, erzählt er. Am Abend steckte er den Film in einen Umschlag, ging zum Münchner Hauptbahnhof, suchte den Nachtzug nach Berlin und befestigte den Umschlag unter dem Waschbecken der ersten Toilette im ersten Wagen. „Manchmal war ich kaputt. Der Druck, Karriere zu machen in einem Beruf, den ich nicht mal frei gewählt hatte, war groß“, sagt Feuerstein. „Doch das ging immer schnell vorüber.“

Nach jenem Novemberabend 1989 blieb in seinem Leben oberflächlich zuerst alles beim Alten. Er ging jeden Morgen in sein Büro bei MBB, traf sich mit den Bekannten, die nichts von seinem zweiten Leben wussten. Doch in seinem Inneren war ein Chaos. Alles drehte sich um die Frage: Wie kann mein Leben weitergehen? Irgendwann hatte er eine Idee. „Als ich glaubte, sicher zu sein, dass mich niemand verdächtigte, rief ich meine ehemaligen Befehlsgeber an“, sagt Feuerstein. „Ich bat sie um ein Treffen, ich wollte, dass sie mich zum KGB vermitteln.“ Er brauchte eine neue Motivation. Doch zu dem Treffen sollte es nicht kommen, Feuerstein nie für den KGB arbeiten.

Auf dem Rückweg hielt er an einer Tankstelle, um seine Frau anzurufen. Er wollte nur sagen, dass er bald daheim sein würde. Es war der 9. Oktober 1990. „Wie geht’s Spatzl?“, begrüßte ihn seine Frau am Telefon. Dieter Feuerstein legte auf ohne zu antworten. Die drei Worte waren ein Code: Sie standen für „Hausdurchsuchung“. Dieter Feuersteins wahre Identität war aufgedeckt. Später sollte er erfahren, dass ihn sein letzter Instrukteur verraten hatte. Nach dem Telefonat kehrte er mit zitternden Knien zu seinem Wagen zurück. Panisch spielte er alle Fluchtmöglichkeiten durch, Fragen rasten durch seine Gedanken: Was würde mit der Familie passieren, wenn er floh? Was mit seiner demenzkranken Mutter? Dieter Feuerstein war plötzlich klar, dass er nirgends hingehen würde. Langsam stieg er aus seinem Auto aus, ging zurück zur Telefonzelle und rief noch einmal zu Hause an. „Ich komme“, sagt er.

Acht Jahre schickte der Richter ihn wegen schweren Landesverrats ins Gefängnis, nur vier saß er ab. Als er wieder frei kam, war Dieter Feuerstein erst 40 Jahre alt, er hätte noch einmal von vorne anfangen, die Spionage als Episode abhaken können. Doch er sagt noch heute: „Der Kommunismus wird wieder kommen.“ Er meint es ernst. Wenn er vom Kommunismus spricht, denkt er an eine Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt sind und in der Frieden herrscht. Als so eine Welt malte er sich die DDR aus.

Viele Westspione der DDR distanzierten sich nach der Wende von ihrer früheren Tätigkeit. Viele hatten sich anwerben lassen, weil sie das Geld reizte, andere weil sie sich ein abenteuerliches Leben versprachen. Mit dem Untergang der DDR war ihr Interesse am Kommunismus erloschen. Wieder andere Westspione verheimlichten ihre Vergangenheit, weil sie Angst hatten, im wiedervereinigten Deutschland sonst keine Chance auf ein normales Leben zu haben. Feuerstein hingegen stand weiter zur DDR, zu seiner Spionagetätigkeit. Er verlor deswegen mal einen Arbeitsplatz in einer Sicherheitsfirma, was ihn nur kurz ärgerte. Heute ist er selbstständig, hat eine Firma für Patentrecherchen und braucht keine Rücksichten zu nehmen. „Ich genieße es jetzt“, sagt er, „dass ich sein kann, wer ich bin, dass ich Freunde haben kann, die so denken wie ich.“

Als er in Haft saß, las er in den Zeitungen, was die Bürger der ehemaligen DDR über ihr erloschenes Land zu sagen hatten. Das war nicht viel Gutes. Da ahnte Feuerstein, dass viele DDR-Bürger unglücklich gewesen waren, dass Freiheit wichtiger war als Ideale. Seine Meinung jedoch änderte er nicht. „Als während des ersten Golfkriegs im Bundestag über einen Auslandseinsatz diskutiert wurde, war mir klar, dass ich richtig gehandelt hatte. Die Bundesrepublik stand nicht für Frieden, die DDR schon“, sagt Feuerstein. „Ich erinnerte mich an das, was mein Vater einmal im Wald gesagt hatte: ‚Als Kundschafter sorge ich für den Frieden’.“

Über seinen Anwalt nahm er Kontakt zu anderen ehemaligen Westspionen der DDR auf, von denen er während seiner Spionagezeit nichts wissen durfte und über die er jetzt in Zeitungsberichten las. Sie schrieben sich lange Briefe, und als sie wieder frei waren, schlossen sie sich als „Kundschafter des Friedens“ zusammen. Sie kämpfen noch heute für ihre Rehabilitierung. Sie wollen genauso behandelt werden wie die BND-Spione, die in der DDR gefasst wurden und Jobs bekamen und Entschädigungszahlungen und nicht ins Gefängnis mussten.

Wenn die Ex-Spione sich sehen, schwelgen sie in Erinnerungen. Und wenn Feuerstein seine ehemaligen Auftraggeber in Berlin trifft, träumen sie von der DDR. Dieter Feuerstein hat sich entschieden, in seiner eigenen Welt zu leben. Sie befindet sich mitten in München, und das Autokennzeichen seines alten Mercedes lautet M-FS.

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