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Politik: Eigenartige Wirklichkeiten

Von Christoph von Marschall

In westeuropäischen Breiten ist das Sein in der Regel stärker als der Schein. Im Nahen Osten ist die Fiktion stärker als die Realität. Man sieht es an den Bildern, die sich die Konfliktparteien und Menschen vom Krieg im Libanon machen. Die Hisbollah gibt vor, sich auf der Siegesstraße zu befinden – allein, weil sie Israels Militär seit drei Wochen standhält. Tatsächlich werden Tag für Tag weitere ihrer Stützpunkte zerstört, Kämpfer getötet, Raketen vernichtet. Doch scheint das keine Rolle zu spielen für die Wahrnehmung in der arabischen Welt. Die Hisbollah verhält sich wie ein Mann nach dem Sprung durch die Fensterscheibe, der mit Wunden übersät ist, aber behauptet, es gehe ihm besser als je zuvor.

Viele Araber übernehmen diese Sicht. Sie bedient ihre Sehnsucht, einmal nicht unterlegen zu sein. Sie lindert den Minderwertigkeitskomplex. Der Schwindel ist möglich, weil die Guerilla nicht sichtbar geschlagen wird und kapitulieren muss – wie die arabischen Armeen in mehreren Nahostkriegen. Und da immer mehr Menschen daran glauben wollen, wird die militärisch unsinnige Fiktion zu einer politischen Realität. Die Hisbollah etabliert sich gerade als Libanons nationale Verteidigungsmacht. Sie gibt vor, zu leisten, wofür die offizielle Armee, die inzwischen selbst aktiv geworden ist, zu schwach ist. Sobald die Waffen ruhen, wird sie die Reihen ihrer Kämpfer und die Raketenarsenale wieder auffüllen.

Auch Israel lügt sich die Wirklichkeit zurecht. Es redet sich ein, die Hisbollah bis zur Handlungsunfähigkeit dezimieren zu können. Die Libanesen würden verstehen, dass die Hisbollah die Ursache ihres Leidens ist, und sich folglich von der Schiitenmiliz abwenden. Iran und Syrien, noch so eine Illusion, müssten erkennen, dass der Preis, den sie für die Provokation zahlen, zu hoch sei. Das werde sie vor Wiederholung abschrecken.

Sieht Israel nicht, dass ihm seine taktischen Siege wenig nutzen? Sie unterminieren das strategische Ziel: Schutz gegen künftige Raketenangriffe. Die Zerstörung einiger tausend Geschosse und Abschussrampen bringt nur kurzfristig Linderung. Doch erst gestern tötete eine aus dem Südlibanon abgefeuerte Rakete wieder neun Israelis. Nach diesem Krieg werden noch mehr Libanesen bereit sein, neue Raketen in ihren Häusern zu verstecken und der Guerilla als zivile Schutzschilde zu dienen. Iran und Syrien werden gerne Nachschub liefern. Politisch hat Israel die Hisbollah gestärkt. Vor dem Krieg lehnte eine Mehrheit der Libanesen die Schiitenmiliz ab – als Handlanger Irans und Syriens. Jetzt gilt sie als Verteidigerin der nationalen Ehre. In Israel wird die Fiktion nicht lange über die Wirklichkeit triumphieren. Dies ist eine westliche Gesellschaft, Rationalität ist am Ende stärker als Wunschdenken. Es dauert nur manchmal.

Und der Westen? Der träumt vom Verhandlungsfrieden. Schon möglich, dass er kommt. Auf einen Resolutionsentwurf konnte sich der Sicherheitsrat schon einmal einigen. Doch warum sollte die Hisbollah ihre Entmachtung zulassen? Und wer, bitte, könnte sie notfalls zwingen? Ein haltbarer Waffenstillstand ist schwer zu erreichen, wenn man sich nicht einmal auf eine kompatible Sicht der Wirklichkeit einigen kann. Die Bush-Regierung ordnet Libanon hilflos als weiteres Kapitel im Kampf gegen den Terror ein. Sie redet mit Israel und Libanon, nicht aber mit Syrien und Iran, geschweige denn mit der Hisbollah. Die braucht man aber für verlässlichen Frieden.

In Europa ist der gute Wille ausgeprägter als die skeptische Risikoabwägung. Ja, es ist eine Ehre für Deutschland und ein Versöhnungswunder, wenn Israel deutsche Soldaten sechzig Jahre nach dem Holocaust als Friedensbringer willkommen heißt. Aber soll man der Bundeswehr und den Franzosen wünschen, dass sie gegen die Hisbollah antreten müssen? Israels Sicherheit erkämpfen, das wollen die Europäer nicht. Doch eine eigene Fiktion von der Realität, die Wunden und Tote ausblendet, steht ihnen nicht offen. Für sie zählen Menschenleben.

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