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Politik: Ein alter Professor wehrt sich gegen den Abriss der Pekinger Altstadt

Es war ein kühler Morgen im Februar, auf den geschwungenen Dächern der Pekinger Altstadt lag noch Raureif, als der alte Zhao zum ersten Mal in seinem Leben "wirklich Angst" bekam. Ein halbes Jahrhundert hatte er mit seiner Familie nun in der Nummer 22 gelebt, einem Hofhaus aus der Ming-Dynastie.

Es war ein kühler Morgen im Februar, auf den geschwungenen Dächern der Pekinger Altstadt lag noch Raureif, als der alte Zhao zum ersten Mal in seinem Leben "wirklich Angst" bekam. Ein halbes Jahrhundert hatte er mit seiner Familie nun in der Nummer 22 gelebt, einem Hofhaus aus der Ming-Dynastie. So alt ist es, dass keiner weiß, wie alt es ist. Hinter den mächtigen grauen Mauern hatten sie den Hunger nach Maos Großem Sprung überstanden, hatten der Professor und seine Frau die Straßenkämpfe der Kulturrevolution überlebt. Doch als er an diesem Morgen im Jahr 1998 vor sein Haus in die "Gasse hinter dem Kunstmuseum" trat, blieb dem damals 80-Jährigen der Atem weg. Mit dicken Strichen war ein Schriftzeichen an die Wand gepinselt. "Chai" - "Abreißen." Zwei Wochen hätten die Anwohner Zeit, hieß es daneben auf dem Plakat einer Baufirma, dann werde "das Viertel abgerissen".

So ähnlich beginnen sie alle, die Geschichten vom Ende des alten Peking. Wenn man durch die ruhigeren Stadtbezirke spaziert, die Gassen um die Verbotene Stadt oder die Märkte beim kaiserlichen Glockenturm, erzählen sie die Menschen immer neu: Eines Tages steht plötzlich das Zeichen "Chai" auf den alten Häusern. Wenig später kommen die Lastwagen, mit denen die Menschen samt Hab und Gut in die Neubausiedlungen am Stadtrand gekarrt werden. Irgendwann fahren schließlich Bulldozer vor, um Platz für eine neue Straße, ein Kaufhaus oder einen Wohnblock zu schaffen.

Die Geschichte vom alten Zhao jedoch ist anders, und wäre sie schon ausgestanden, könnte man fast von einem Märchen sprechen: Bald zwei Jahre nach dem Abrissbescheid steht das Haus Nummer 22 noch immer stolz in der Straße. Nur ist es drum herum ein wenig einsam, denn alle Nachbarhäuser sind dem Erdboden gleich gemacht.

"Kommen Sie, ruhen Sie sich aus", sagt Zhao und führt den Besucher vorbei an Rosenbüschen und rot lackierten Holzsäulen durch den Hof, in dem ein Kohleofen bollert. Aus einer Thermoskanne gießt der 82-Jährige heißes Wasser in Tassen, und es scheint, als könne ihn nichts in der Welt aus der Ruhe bringen. Der Blick ist freundlich, aber bestimmt. "Wir lassen uns nicht rausschmeißen", sagt er. Lange habe er mit seiner Frau geredet, ehe sie sich entschlossen, Widerstand gegen die Baufirma Wangfujing zu leisten. "Wenn wir uns nicht wehren, ist das alte Peking verloren."

"Hutongs" nennen die Pekinger ihre alten Gassen. Ein Gewirr aus Wohnhäusern, Märkten und Handwerksbetrieben, die seit der Kaiserzeit das Stadtbild prägen. Mehr als 3000 Hutongs soll es noch geben, die genaue Zahl kennt niemand. "So viele wie Ochsenhaar", heißt es. Vor 700 Jahren wurde Peking wie ein Schachbrett angelegt, und bis heute hat die einstige Kaiserstadt in den Hutongs ihr Gesicht bewahrt. Kerzengerade verlaufen die großen, von Baumreihen gesäumten Straßen von Norden nach Süden und von Westen nach Osten, teilen die Stadt in unzählige kleine Rechtecke. Die Pekinger sind deshalb Meister der Orientierung. Um Fußgänger zu warnen, riefen die Rikscha-Männer früher an den Kreuzungen "Qu xi!" ("Nach Westen!") oder "Qu dong!" ("Nach Osten!"). Noch heute sagt ein altes Weib, wenn es sich nachts im Bett vom Mann eingequetscht fühlt: "Dreh dich ein bisschen nach Süden!"

Die Beschaulichkeit von früher ist dahin. Nachdem die Hutongs den Sozialismus wie im Winterschlaf überstanden haben, droht ihnen die Marktwirtschaft den Garaus zu machen. Mehr als zwei Drittel der Hutongs fielen in den vergangenen Jahren den Stadtplanern und Bodenspekulanten zum Opfer. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendwo in der Stadt eine alte Gasse abgerissen wird, um Platz für neue Bürotürme zu schaffen. Peking soll modern werden, so wünschen es sich die KP-Führer. Modern, das heißt größer, neuer, höher. Aus gemütlichen Gassen werden sechsspurige Stadtautobahnen, aus alten Marktvierteln westliche Shopping-Malls mit Fast-Food-Restaurants und unterirdischen Parkhäusern.

Den Pekingern schien das lange nichts auszumachen. Bis heute träumen die meisten Familien davon, in einem der modernen und nach westlichem Geschmack hässlichen Wohnsilos unterzukommen. In den Hutongs, wo es durch die Dächer regnet und durch die Türritzen pfeift, bleiben die Alten und die Armen zurück. Die Lebensbedingungen sind oft primitiv. In der Regel teilen sich die Hutong-Bewohner aus einer Gasse ein öffentliches Plumpsklo, und statt einer Dusche gibt es Waschschüsseln. Ist es da nicht besser, die alten Häuser abzureißen, argumentiert die Stadtverwaltung. Platz für eine neue, schöne Stadt zu schaffen?

Nicht für den alten Zhao und mit ihm eine immer größer werdende Zahl von Pekingern. Seit der pensionierte Professor sich gegen den Druck der Baufirma stemmt, die auf dem Grundstück ein Kaufhaus errichten will, ist das Haus Nummer 22 zum Symbol für die Rettung der Altstadt geworden. Intellektuelle, Schriftsteller und Architekten haben sich mit dem Ehepaar verbündet, und trotz der Zensur unterstützen einige Medien den alten Zhao. Viele Menschen erinnern sich noch, wie Anfang der Fünfziger die Stadtmauer geschleift wurde, um Platz für die zweite Ringstraße zu machen. Damals hatte der Architekt Liang Sicheng vergeblich versucht, die Mauer zu erhalten. Er sah darin den Anfang vom Ende der Altstadt und schlug deshalb vor, statt das alte Peking abzureißen, solle man lieber außerhalb eine Neustadt aufbauen. Liang Sichengs Warnrufe wurden überhört. Und es scheint, als würden jetzt die Fehler von damals wiederholt.

Bis heute hat Zhao von den Behörden keine offizielle Baugenehmigung gesehen. "Sie verstoßen eindeutig gegen das Gesetz", schimpft Zhao. "Die können mir doch nicht einfach mein Haus nehmen." Offensichtlich schon: Außer Zhao hat die Baufirma Wangfujing bereits alle Nachbarn vergrault - mehrere Hundert Familien. Vor kurzem habe ihm die Firma gedroht, Wasser und Strom zu kappen, berichtet Zhao. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, drückte eine Planierraupe zwei Außenmauern zum Hof ein.

Kann er nicht zur Polizei gehen, vor Gericht klagen? "Die Baufirma und die Bezirksregierung stecken unter einer Decke, die lachen mich nur aus", sagt Zhao. Nach außen halten sich die Behörde und die Baufirma bedeckt: Man habe zu dem Fall "nichts mitzuteilen", heißt es, das Vorgehen stehe "in Einklang mit den Gesetzen". Anfang November schickten die Behörden ein offizielles Schreiben. Zhao habe "einen Tag Frist", um Widerspruch gegen den Abriss einzulegen. Mit einem Rechtsstaat habe das nichts zu tun, schimpft Zhao. "Recht bekommt man in diesem Land nur, wenn man Beziehungen hat."

Es ist ein mühsamer Kampf, den das alte Ehepaar führt. Zhaos verschmitztes Lächeln zeigt jedoch, dass er sich zu wehren weiß. Noch bevor der Tee kalt geworden ist, stehen Reporter des Peking-Fernsehens in seinem Hof. Für den Nachmittag erwartet Zhao einen befreundeten Redakteur einer Lokalzeitung. Nein, sagt der alte Mann, "Angst habe ich vor denen nicht mehr."

Harald Maass

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