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Politik: Ein anderes Fegefeuer

Von Anja Kühne

Für die Gegner der Rechtschreibreform ist dieser Montag ein wahrhaft schwarzer Tag. Mit dem Inkrafttreten der neuen Schreibregeln erhöht sich die Zahl der Fehler im „Zauberberg“ von Thomas Mann „von annähernd null auf etwa 8000“, klagt etwa die Forschungsgruppe Deutsche Sprache. Dem Club gehören prominente Kritiker der Reform an. Die Schriftsteller Walter Kempowski, Adolf Muschg und Reiner Kunze zum Beispiel, der Germanist Theodor Ickler oder der Verleger Michael Klett. Die Sprachspezialisten wissen eine breite Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich: Denn die Masse der OttoNormal-Schreiber will die neuen Regeln auch nicht lernen.

Dabei war die Reform doch gut gedacht. Sie sollte die deutsche Schriftsprache von Ballast befreien. Das Ergebnis aber ist ernüchternd. Die Rechtschreibung wirkt nun vollends undurchschaubar und chaotisch. Viele fühlen sich bevormundet. Sie haben den Eindruck, dass sich Bürokraten ihrer Sprache bemächtigt haben. Die Kultusministerkonferenz erscheint als Wahrheitsministerium Orwell’scher Prägung: Ihr geistig verflachtes „Neuschreib“ zerschreddere die kulturelle Vergangenheit.

Die Mehrheit der Bevölkerung findet es deshalb gut, dass Bayern und Nordrhein-Westfalen die Übergangszeit, nach der die Regeln tatsächlich verbindlich werden, einfach um ein Jahr verlängern. Nur, was dann? Soll die Reform danach zurückgenommen werden? Die Rückkehr zu den alten Regeln würde die Deutschen ja nicht ins Rechtschreib-Paradies zurückversetzen. Sie würde ihnen nur ein anderes Fegefeuer bescheren. Ist es wirklich wünschenswert, „Auto fahren“, aber wieder „radfahren“ schreiben zu müssen? Manche Regeln sind jetzt tatsächlich einfacher. Und: Was würde es bringen, den Schulen wieder die alte Rechtschreibung zu empfehlen, nachdem dort seit einigen Jahren die neue gelehrt wird?

Anders als die Kritiker behaupten, hat man bei der Reform auf Radikalkuren verzichtet, wie sie immer wieder diskutiert wurden. Blickt man in die lange Geschichte des Ringens um die Orthografie, relativieren sich die jüngsten Eingriffe erheblich. So wollte Jacob Grimm – kein Kulturpfuscher, sondern einer der Väter der Germanistik – eine „einfache und natürliche“ Orthografie nach dem Muster des Mittelhochdeutschen durchsetzen: „Schif, Ermel und Ameiße“. Was ist dagegen schon der „Delfin“ als Variante neben dem „Delphin“?

Auch die bei manchen Reformkritikern kursierende Idee, bislang habe sich die Rechtschreibung gleichsam im Sprachgebrauch von allein gemacht, muss relativiert werden. In Wirklichkeit waren es seit jeher bestimmte Autoritäten, die sich um Regeln bemühten – und dabei ihre Spuren hinterließen: Schulmeister, Stadtschreiber, Drucker und seit dem 18. Jahrhundert auch staatliche Instanzen. Friedrich der Große zum Beispiel beauftragte Johann Christoph Adelung mit einer „Deutschen Sprachlehre“ für die preußischen Schulen. So hat sich die Rechtschreibung über Jahrhunderte zu einem komplexen System entwickelt.

Bestimmt gibt es gute Gründe für die reformkritischen Linguisten im Rat für deutsche Rechtschreibung, einige der neuen Regeln jetzt wieder zurückzunehmen. Die Experten sollten jedoch der Versuchung widerstehen, sprachwissenschaftliche Argumente absolut zu setzen. Müssen sich die Lehrer angesichts der drängenden Probleme vieler Schüler mit einer Reform der Reform herumschlagen, damit, zu erklären, warum es „in bezug auf“ aber „mit Bezug auf“ heißt?

Regeln, die zu viele nicht verstehen, sind sinnlos. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich schon heute mehr als zwei Drittel der unter 30-Jährigen nach den neuen Schreibweisen richten, wie eine Umfrage ergab. Ein Kompromiss zwischen progressiven und konservativen Schreibern müsste darin bestehen, in den besonders umstrittenen Fällen Varianten zuzulassen. Erlaubt wäre dann sowohl „im Weiteren“ als auch „im weiteren“. Das wäre auch für die Schulen eine pragmatische Lösung. Und: Vermutlich würden sich damit die seit heute auftretenden Fehler im „Zauberberg“ wieder um die Hälfte reduzieren.

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