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Politik: Ein Deich ist gebrochen

Von Clemens Wergin Man kann es nur als posthumen Sieg bezeichnen: Immerhin ein Sechstel der Niederländer haben mit Pim Fortuyn einen Toten gewählt, den Wahlschein als Kondolenzliste benutzt. Gleichzeitig konnten die Christdemokraten einen unerwartet hohen Vorsprung vor allen anderen Parteien erringen.

Von Clemens Wergin

Man kann es nur als posthumen Sieg bezeichnen: Immerhin ein Sechstel der Niederländer haben mit Pim Fortuyn einen Toten gewählt, den Wahlschein als Kondolenzliste benutzt. Gleichzeitig konnten die Christdemokraten einen unerwartet hohen Vorsprung vor allen anderen Parteien erringen. Die acht Jahre währende Ära der Sozialdemokraten in Holland ist zu Ende.

Die Christdemokraten sind mit Abstand die stärkste Partei im neuen Parlament. Jetzt muss sich Parteichef Jan Peter Balkenende entscheiden, ob er Fortuyns Gefolgsleute tatsächlich in die Regierung holen will. Aber hat er wirklich die Wahl? Die Niederlande haben einen außergewöhnlich emotionalen Wahlkampf erlebt. Fortuyn war es gelungen, die überall spürbare Unzufriedenheit über die etablierten Verhältnisse zu bündeln. Da wird es sich Balkenende kaum leisten können, nur wieder eine der üblichen Konsens-Koalitionen zu bilden, als wäre nichts gewesen. Er wird wohl in die Offensive gehen, wird versuchen müssen, Fortuyns Leute im Regierungsalltag zu entzaubern.

Allerdings: Diese Strategie gegenüber den Rechtspopulisten hat nicht überall funktioniert. Das beste Beispiel ist Österreich, wo es Jörg Haider gelungen ist, trotz der Regierungsbeteiligung seiner FPÖ Volkstribun und Oppositioneller zu bleiben. Dennoch: Wenn der Versuch Erfolg haben könnte, dann in den Niederlanden. Fortuyn selbst hielt seine Truppe für inkompetent. Ohne ihren Kommunikator könnte es der Liste Fortuyn so ergehen wie der DVU in Sachsen-Anhalt – ohne Format keine Lösungen, ohne Lösungen keine Wiederwahl. Denn nur mit Ressentiments lässt sich auf Dauer nicht regieren. Und kein Problem wird einfacher, wenn man es einfach redet.

Fortuyns kurzes, aber heftiges Wirken auf der politischen Bühne und seine Ermordung waren ein Weckruf für die holländische Demokratie. Seither werden die Risse, die das Land durchziehen, nicht mehr nur verdeckt. Die einst hoch gelobte Regierung hatte verlernt, was das 1982 erfundene „Poldermodell“ im Grunde auszeichnet: Das genaue Hinschauen, die korrekte Analyse, um dann eine gemeinsame Lösung für Missstände zu finden.

Anfang der 80er steckten Wirtschaft und Staatsfinanzen in der Krise. Mit pragmatischen Schritten – Sparen, Lohnverzicht, Flexibilisierung und Stärkung der Teilzeitarbeit – überwanden die Niederlande ihre Schwächeperiode. Vollbeschäftigung, ausgeglichener Haushalt und Jahre kräftigen Wirtschaftswachstums ließen die Nachbarn neugierig, manchmal neidisch über den Deich schauen.

Aber zu viel Lob macht träge. Und denkfaul. Denn was sich aus den Zahlen nicht ablesen lässt, das sind die realen Lebensverhältnisse. Die Holländer verstehen nicht, warum man in einem der reichsten Staaten der Erde wochen-, manchmal monatelang auf einen Operationstermin warten muss. Warum Kriminalität vor allem von Ausländern in den Städten ständig steigt und die Polizei nach Einbruch der Dunkelheit davon abrät, bestimmte Viertel zu besuchen. Bei ihren Bemühungen, das Konsensmodell auszutarieren, hatten die regierenden Sozialdemokraten unter Wim Kok die Balance in der Gesellschaft vernachlässigt. Und so kommt es, wenn Politiker der Mitte sich dieser Probleme nicht annehmen: Dann suchen sich die Probleme ihre Mehrheit. Oder einen Mehrheitsbeschaffer. Der Fortuyn-Effekt.

Europa reibt sich verdutzt die Augen: Ob Norwegen, Dänemark, die Schweiz, Österreich, Italien, Portugal, Frankreich, Belgien oder jetzt Holland – überall sind die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Europa ist krank. Es würde helfen, wenn es sich dessen durch diese Wahl endlich bewusst würde.

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