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Wer weiß was? Kanzlerin Merkel und SPD- Fraktionschef Steinmeier. Foto: Reuters

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Politik: Ein Fall von Schachblindheit

Taugt die Ausspähaffäre um die NSA als Thema im Wahlkampf?

Von Antje Sirleschtov

Berlin - Es war ausgerechnet der frühere Innenminister Otto Schily, der seine SPD gewarnt hatte, die Ausspähaffäre um den amerikanischen Geheimdienst NSA zum Thema des Wahlkampfes zu machen. In der SPD-Zentrale hatte man sich jedoch bereits anders entschieden und betrachtete Schilys Äußerungen vor knapp zwei Wochen mit einer gewissen Wut – nach dem Motto: Der Alte soll sich nicht so wichtig nehmen.

Nun deutet sich an, dass die NSA womöglich gar nicht im Verbund mit dem Bundesnachrichtendienst millionenfach Daten deutscher Bürger nach Amerika versandt haben könnte. Zudem wird einer der wichtigsten SPD-Politiker, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, demnächst über seine einstige Rolle als Kanzleramtsminister in der Zusammenarbeit der Geheimdienste im Kontrollgremium des Bundestages aussagen und damit irgendwie auch zum Kreis der Mitwisser zählen. Was manchem Wahlkämpfer der SPD die mahnenden Worte Schilys plötzlich wieder ins Gedächtnis rückt, auf jeden Fall aber die Frage aufwirft: Was kann man noch gewinnen mit diesem Thema?

Betrachtet man die Abläufe, waren die Chancen der SPD, die Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem Thema Datensicherheit anzugreifen und eigene Wähler zu mobilisieren, zunächst erstaunlich gut. Denn eines ist klar: Die Regierung wurde von den Enthüllungen des Ex-Geheimdienstlers Edward Snowden am 5. Juni kalt erwischt. Snowdens Vorwurf, die NSA überziehe ganz Deutschland mit Datenrecherchen, schienen selbst die deutschen Geheimdienste nicht widerlegen zu können. Beredtster Ausdruck dieser ersten Phase war zweifellos Merkels Wort vom „Neuland Internet“, dessen Regeln und Wesen man noch ergründen müsse.

Ein deutliches Zeichen des Unwissens, das Mitte Juli noch verstärkt wurde durch das Agieren des Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU). Weder vor noch nach seiner Reise nach Washington konnte Friedrich der Öffentlichkeit das Gefühl vermitteln, der „Innen“-Minister wisse wirklich, was „innen“ in Deutschland vor sich geht. SPD-Chef Gabriel sprach von „Schaugesprächen“ mit den USA, was aus Sicht des sozialdemokratischen Wahlkämpfers auch folgerichtig war. Schließlich brachte Gabriel nur auf den Punkt, was alle dachten: Da steht ein ungeheuerlicher Vorwurf im Raum, und die Regierung tappt komplett im Dunkeln. Ein Eindruck, den übrigens auch die Kanzlerin nicht ausräumen konnte oder wollte, als sie am 19. Juli vor die Bundespressekonferenz trat. Zwar beteuerte die Regierungschefin dabei, „auf deutschem Boden müssen deutsche Gesetze eingehalten werden“. Ansonsten aber glich ihr Auftritt einem hundertminütigen „Weißnicht-genau“. Ein Zustand, den die SPD wahrscheinlich noch lange erfolgreich als Ignoranz hätte geißeln können.

Was sie aber nicht tat. Schon zwei Tage später – es lagen wohlgemerkt noch immer keine klaren Beweise dafür auf dem Tisch, ob es überhaupt einen Skandal gibt und wenn ja, in welchem Ausmaß – forderte SPD-Chef Gabriel bereits eine Ablösung des BND-Präsidenten Gerhard Schindler, und Kanzlerkandidat Peer Steinbrück warf Merkel „Mitwisserschaft“ bei „massiver Grundrechtsverletzung in Deutschland“ vor. Merkel wurde die „Verantwortung“ für eine „Totalüberwachung unserer Bürger“ zugeschoben, Steinbrück sah eine klare „Verletzung des Amtseids“ der Kanzlerin, der sie verpflichtet, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“. Aus den „Ignoranten“ der Regierung wurden plötzlich „Mittäter“, was ein großer Unterschied ist.

Nun wittert die CDU ihre Chance. Wer ohne Beweise die Kanzlerin der „Mittäterschaft“ zeiht, dessen „Mittäterschaft“ (ebenfalls ohne Beweise) wird offengelegt. Die CDU spricht von den „Heuchlern“ in der SPD und zerrt Ex-Kanzleramtschef Steinmeier ins Rampenlicht. Im Schach – Peer Steinbrücks Lieblingssport – nennt man diesen Moment „Amaurosis scacchistica“, Schachblindheit. Es ist der Zustand größter Erregung, bei dem man offensichtliche Gefahren nicht mehr sieht. Antje Sirleschtov

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