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Politik: Ein Gefühl von Stärke

Von Gerd Appenzeller

Politik soll ein langweiliges Geschäft sein? Unsinn. Gibt es Aufregenderes, Dramatischeres als den Endspurt in diesem Wahlkampf? In einem Wahlkampf, in dem alles so klar zu sein schien, so entschieden, dass man sich das Wählen selbst eigentlich fast hätte sparen können. Acht Punkte hat die SPD seit Mai gutgemacht, in den Prognosen. In einer Videobotschaft beschwört deren Chef Franz Müntefering die Genossen: „Es ist möglich, dass wir es schaffen, dass Gerhard Schröder Kanzler bleibt.“

Unmöglich ist das nicht, da hat Müntefering Recht. Also wird es Zeit, sich mit der Frage zu befassen, welche Politik ein Bundeskanzler Schröder in seiner dritten Amtszeit verfolgen würde. Und wie die Politik aussähe, wenn es der SPD zwar nicht zur stärksten Kraft reichte, Schröder mithin nicht Kanzler bliebe, aber die SPD ohne ihn als Juniorpartner in einer großen Koalition weiterregieren würde. Ein Regieren ohne Wenn und Aber kann, darf es ja nicht geben.

Schröder und die Sozialdemokraten werden kaum verdrängen oder vergessen, woher sie kamen. Dass beide, Kanzler und Partei, zeitweise in unterschiedliche Richtungen strebten – Stichwort Agenda 2010 –, macht die Betrachtung nicht einfacher. Immerhin stellte der Regierungschef die Vertrauensfrage, weil er an der Gefolgschaft seiner sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zweifelte.

Von Agenda 2010 ist im Moment freilich nichts mehr zu hören. Auf den Plakaten der SPD lesen wir: „Deutschland muss sozial bleiben“, oder: „Merkel/Kirchhof: Radikal unsozial“. Im Internet warnt die SPD vor den „Steuerattacken der Union“. Paul Kirchhof hat den Sozialdemokraten die Vorlagen für die letzte Wahlkampfphase geliefert, und die Themensetzung wirkt. Meinungsforscher berichten, dass die SPD wieder als der Anwalt der sozialen Gerechtigkeit gilt, im Osten noch mehr als im Westen. Die SPD wird also vom Wähler heute anders wahrgenommen als vor den Landtagswahlen, die sie so furchtbar verlor.

Aber ist sie auch anders geworden? Sozialer als ein schwarz-gelbes Bündnis, das wohl schon. Aber auch sozialer als vor dem 22. Mai, dem Tag des NRW-Debakels und der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen? Was wollte, was könnte die SPD denn zurücknehmen von dem, was die Wähler so gegen sie und den Kanzler aufbrachte? Hartz IV, das Arbeitslosengeld II, all die anderen notwendigen, schmerzhaften Reformen, die nach übereinstimmender Überzeugung überhaupt nur eine sozialdemokratisch geführte Regierung hat wagen können? Dann wären die vielen verlorenen Landtagswahlen tatsächlich viele unnötige Schritte auf den Abgrund zu gewesen. Schröder selbst müsste dann abtreten und nicht neu regieren wollen.

Nein, das geht nicht. Das geht weder in einer rot-gelb-grünen Ampel noch als Junior in einer großen Koalition. Die Agenda 2010 bleibt, in welcher Koalition auch immer, auf der Tagesordnung. Was auch nicht geht: anders Wahlkämpfen als hinterher handeln. Gerade wegen dieses Widerspruchs ist der Kanzler nach seinem Wahlsieg 2002 immer wieder eingebrochen, denn die Niederlagen der Partei waren in Wahrheit die von Schröder.

Die SPD ist gegen eine Mehrwertsteuererhöhung, sie will weder die Sonntags- noch die Nachtzuschläge versteuern. Das gefällt vielen Menschen, die ohnehin keinen Euro zu viel haben. Aber sparen müsste auch eine Regierung Schröder. Und ob man die Überlegungen in Hans Eichels Finanzministerium nun Giftlisten oder Arbeitspapier nennt, ändert an deren Wirkung nichts.

Der Kanzler empfände einen, relativen oder absoluten, Wahlsieg als starke Legitimation gegenüber dem Unions-dominierten Bundesrat wie auch innerhalb der eigenen Partei. Wohl wahr. Aber das ist nicht mehr als eine gefühlte Stärke, die die tatsächlichen Machtverhältnisse nur unvollkommen widerspiegelt. Der linke SPD-Flügel kann sich durch den Wahlkampf ermuntert fühlen. Edmund Stoiber in Bayern und den CDU-Ministerpräsidenten wird es herzlich egal sein, was der Kanzler empfindet. Wie ein Kanzler Schröder weiter regieren wollte, wenn er könnte, ist deshalb die spannendste Frage von allen. Die Antwort? Noch drei Tage.

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