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Politik: Ein idealer Sündenbock

Istanbul - Dass Rechtsextremisten unter der Führung eines Ex-Generals versucht haben sollen, in der Türkei Anschläge zu verüben und einen Militärputsch zu provozieren, ist schlimm genug. Aber der türkischen Sensationspresse genügt das nicht.

Istanbul - Dass Rechtsextremisten unter der Führung eines Ex-Generals versucht haben sollen, in der Türkei Anschläge zu verüben und einen Militärputsch zu provozieren, ist schlimm genug. Aber der türkischen Sensationspresse genügt das nicht. Sie tischt Verschwörungstheorien auf, die jeden Tag bizarrer werden. Eine davon geht so: Im Jahr 2002 ärgerte sich der deutsche BND über den türkischen Wissenschaftler Necip Hablemitoglu, der Vertreter deutscher politischer Stiftungen in Ankara vor Gericht gebracht hatte. Also verständigte der BND die türkischen Rechtsextremisten. Hablemitoglu wurde erschossen. Die Stiftungen wurden freigesprochen.

Seit der Zerschlagung der Terrorgruppe „Ergenekon“ in der vergangenen Woche und der Verhaftung von 13 mutmaßlichen Führungsmitgliedern schießen die Spekulationen ins Kraut. Die Dunkelmänner sollen nicht nur mit dem BND gemauschelt haben. Die amerikanische CIA und der israelische Mossad tauchten in Presseberichten ebenfalls bereits auf.

Zwar gehen auch die türkischen Justizbehörden ganz offiziell davon aus, dass „Ergenekon“ Böses im Schilde führte. Die Haftbefehle lauteten auf „Aufwiegelung zum bewaffneten Aufstand gegen die Regierung“, Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie auf unerlaubten Waffenbesitz. Den Beschuldigten, darunter einem Ex-General, drohen jeweils mindestens 15 Jahre Haft.

Doch wenn man den Zeitungen glaubt, war „Ergenekon“ wie eine Krake, die ihre Tentakel in allen möglichen Verbrechen und Organisationen hatte. Selbst mit der umstrittenen Scientology-Organisation wird die Gruppe in Verbindung gebracht.

Ein Anschlag auf Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk soll kurz vor der Ausführung gestanden haben. Der Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink und die brutale Ermordung von drei Christen im osttürkischen Malatya im vergangenen Jahr gingen angeblich ebenfalls auf das Konto von „Ergenekon“. Mit den teils abenteuerlichen Vorwürfen an die Gruppe erteilt sich die türkische Öffentlichkeit eine Art Selbstabsolution: Die Verantwortung für politische Gewalt muss nicht in gesellschaftlichen Fehlentwicklungen gesucht, sondern kann bei den Extremisten abgeladen werden.

Fest steht zwar, dass in der Türkei schon häufiger dunkle Kräfte am Werk waren, die vorgaben, für den „Staat“ zu kämpfen, und dabei Verbrechen begingen. So kamen in den neunziger Jahren enge Verbindungen zwischen Sicherheitskräften und rechtsgerichteten Mafiabanden ans Tageslicht. Auch wird vermutet, dass Morde wie der an Hrant Dink nicht auf das Konto von Einzeltätern gingen, sondern zumindest mit passiver Unterstützung aus den Reihen der Sicherheitsbehörden verübt wurden. Aber dass allein die „Ergenekon“-Terrorgruppe all diese Untaten gelenkt haben soll, ist zumindest für einige Beobachter sehr fraglich. Die türkische Öffentlichkeit habe in „Ergenekon“ eine Organisation gefunden, „die für alles Schlechte verantwortlich sein soll“, sagt ein westlicher Diplomat. Susanne Güsten

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